Politische Ego-Trips auf dem Rücken der Arbeiter
Das erste Bild ist farbenfroh und selbstbewusst. Es zeigt die Fahnen der Bergarbeitergewerkschaft, ihre Tradition und ihren Stolz. Das letzte Bild aber ist gespenstisch grau. Es zeigt die seelenlosen, unbewohnten Kleider der Bergarbeiter, die wie ein Menetekel von der Decke schweben. Es ist ein Bild vom Tod, von einem verlorenen Krieg. Von Kriegen und Schlachten ist häufig die Rede an diesem knapp dreistündigen Abend im Theater Oberhausen. Selbst wenn die Lady mit den harten Knopfaugen am Bildschirm ihr „Democracy will prevail“ ausstößt, klingt dies nicht nach tröstender Zuversicht, sondern nach blanker Kriegsrhetorik. Wir erleben einen Vernichtungskampf; Menschen bleiben auf der Strecke: Bauernopfer und Verlierer, die nie wieder auf die Füße kommen. Auf beiden Seiten des Konflikts agieren erbarmungslose Feldherren. Dabei geht es nur um einen Arbeitskampf.
Dessen Generäle heißen Margaret Thatcher und Arthur Scargill. Zeitzeugen wie der damals dreißigjährige Rezensent erinnern sich mit Schaudern an den wohl härtesten Arbeitskampf der westeuropäischen Geschichte: GB 84 – das Kürzel steht für den Bergarbeiteraufstand im schon damals ärmlichen industriellen Norden Großbritanniens. Wer weiß, wie heute das Brexit-Votum der Briten ausgegangen wäre, hätte Margaret Thatcher ihre neoliberale Ideologie nicht mit solch erbarmungsloser Härte durchgesetzt und die soziale Spaltung des Landes bis heute manifestiert? Wer weiß, ob sich Großbritannien jemals wieder zu einer wirtschaftlich prosperierenden Nation mit hohem volkswirtschaftlichem Wohlstand hätte entwickeln können, wenn Margaret Thatcher nicht mit solch radikaler Konsequenz den Umbau des Landes vorangetrieben hätte? – Politik ist ein mieses Geschäft. Aber es gibt immer zwei Seiten einer Medaille.
Sieben Wochen nachdem Ed. Hauswirth am Schauspiel Dortmund die Mechanik des Klassenkampfes anhand der Französischen Revolution aufgezeigt hat (siehe hier) http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2016/10/dortmund-triumph-der-freiheit.html), versucht nun Peter Carp am Theater Oberhausen Ähnliches anhand des britischen Bergarbeiterstreiks. Grundlage ist diesmal der Roman-Bestseller des britischen Autors David Peace, der mehr als die Vorlage von Joël Pommerat in Dortmund etwas Sex und Crime in die ansonsten wahrheitsgetreue Wiedergabe der politischen Auseinandersetzung gemischt hat. Erneut verfolgen wir mit Grausen, aber nicht ohne Faszination, wie Ideologie zu Scheuklappen und das ausgeprägte Ego der Alpha-Tiere zu Brutalität führt. Wie mit unsauberen Methoden gearbeitet wird und zu Kompromiss und Vernunft neigende Menschen zermalmt zu werden drohen. Und während wir beim Dortmunder Rückblick auf die Französische Revolution noch davon sprechen konnten, dass es mangels Vertrauen keine ehrliche Kommunikation zwischen den Konfliktparteien gab, lässt sich bei David Peace konstatieren, dass es im Grunde überhaupt keine Kommunikation zwischen den Konfliktparteien gibt – zu unversöhnlich sind die aufeinanderprallenden inhaltlichen Positionen, vor allem aber die aufeinandertreffenden Charaktere.
Als der staatliche National Coal Board Anfang des Jahres 1984 ankündigte, zwanzig unrentable Zechen zu schließen und circa 20 000 Arbeitsplätze in der Kohleindustrie abzubauen, hatte die konservative Regierung unter Margaret Thatcher längst Vorsorge für einen erwarteten Streik getroffen. Bereits seit dem Jahr 1978 hatte die Regierung beträchtliche Kohlevorräte anlegen lassen und die Energiegewinnung aus Nordsee-Öl und Atomkraftwerken vorangetrieben. Zudem waren neue Gesetze und Bestimmungen erlassen worden, die die Rechte streikender Arbeiter auf finanzielle Unterstützung massiv einschränkten. Auch in der Personalpolitik rüstete die Regierung frühzeitig zum Krieg: Zum Vorsitzenden des National Coal Boards wurde mit Ian McGregor ein Ultra-Hardliner berufen, der zuvor bei der radikalen Modernisierung von British Steel 80 000 Arbeitsplätze abgebaut hatte. Schon seine Ernennung galt als Provokation der Bergarbeiter-Gewerkschaften.
Diese wiederum wurden geführt von einem Mann, gegen den Claus Weselsky von der GDL ein Waisenknabe sein dürfte. Arthur Scargill, auch „King Arthur“ genannt, war bekennender Marxist und ein exzentrischer, machtbesessener und beratungsresistenter Populist und Demagoge. Die Fraktion der Realpolitiker, die in seiner National Union of Mineworkers wohl zahlenmäßig die Mehrheit hatte, vermochte ihn zu keiner Zeit einzufangen. – So war denn im Jahre 1984 alles exzellent bereitet für ein großes Blutvergießen. Niemand allerdings hatte wohl erwartet, dass dieses nicht nur metaphorisch, sondern ganz real stattfinden würde.
Die brutalen Straßenschlachten, die tatsächlich mehrere Todesopfer forderten, sehen wir in Oberhausen allerdings nur in Form von dokumentarischem Filmmaterial; von den Opfern, die die innergewerkschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen streikenden und arbeitsbereiten Kumpels forderten, sowie von dem dubiosen Tod einer Atomkraftgegnerin (gemeint ist der bis heute im Hinblick auf Täterschaft und Tatmotive umstrittene Mord an der 78jährigen Naturfreundin und Atomkraftgegnerin Hilda Murrell) erfahren wir aus den Gesprächen und Diskussionen der Pro- und Antagonisten auf der Bühne. Das ist gut so, denn natürlich will Peter Carp keinen Action-Thriller, sondern einen Polit-Thriller inszenieren, und in dem wirken schon die zahlreichen Szenen zwischen dem Bergarbeiterpaar Martin und seiner Frau Cath eher wie Fremdkörper.
Zu Beginn überzeugt die Inszenierung mit hohem Tempo und schnellen Schnitten. Die Bühne lässt Szenenwechsel zu jeweils drei verschiedenen Spielorten zu, die nur durch Lichtwechsel ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Präzise werden die frühkapitalistischen Politikansätze von Regierung und National Coal Board und der kompromisslose Stil des Gewerkschaftsführers gegeneinander geschnitten; Thatchers Rede von den Gewerkschaften als dem „Feind im Inneren“ setzt gleich zu Beginn den unversöhnlichen Ton. Aufmerksame Zuschauer erkennen die Entwicklung der Rolle der Polizei, die zu Beginn des Konflikts durchaus Sympathien für die Streikenden zeigt, später aber mit animalischer Gewalt gegen die Bergarbeiter kämpft. Ein Polizeiführer wird später erklären, dass auf dem Höhepunkt der physischen Auseinandersetzungen, bei der legendären „Schlacht von Orgreave“, die Polizisten nicht zur Deeskalation, sondern zum Anheizen des Konflikts benutzt wurden. Gleichzeitig sinkt aber auch das Verständnis der Polizei und der Bevölkerung für die Streikführer, die den Arbeitskampf gegen die Mehrheit der inzwischen finanziell ausgebluteten Kumpel durchzusetzen versuchen und ihre Kumpel in den finanziellen Ruin treiben. In Oberhausen wird John Lennons „Working Class Hero“ eingespielt – die Working Class Heroes werden verraten und verkauft, und zwar von beiden Parteien des Konflikts in gleichem Maße. Bald geht es für manche der Figuren nicht mehr um die Sache, sondern um das Schüren von Misstrauen und Angst, um Korruption und Blackmailing – und vor allem um das rücksichtslose Durchsetzen persönlicher Interessen. Schlägertruppen werden eingekauft, die Presse wird instrumentalisiert, politische Ungeschicklichkeiten unterlaufen; der für weibliche Reize empfängliche Geschäftsführer der Bergarbeitergewerkschaft fällt einer Geheimdienstaffäre von klischeehafter Güte zum Opfer – Politik ist schmutzig, aber spannend, und das zeigt die Inszenierung durchaus beeindruckend auf.
Doch der Polit-Thriller trägt nicht über volle 170 Minuten. Letztendlich sehen und hören wir zu viel vom Immergleichen – den Variantenreichtum, den die Dortmunder in ihrer ähnlich angelegten Inszenierung vom „Triumph der Freiheit“ an den Tag legen, erreicht die Oberhausener Aufführung nicht. Radikalere Kürzungen der in David Peace‘ Roman sich immerhin über 544 Seiten erstreckenden Geschichte hätten dem Abend gutgetan. Peter Carp hat sich jede erdenkliche Mühe gegeben, die beim Zuschauer zwangsläufig entstehende Verwirrung angesichts von achtzehn Figuren, die sich auf neun Schauspieler verteilen, aufzulösen, doch ganz gelingt dies nicht. Und leider gelingt es Torsten Bauer, normalerweise einem der herausragendsten und charismatischsten Schauspieler am Theater Oberhausen, nicht, das Dämonische und Egozentrische der Figur von Arthur Scargill zu verdeutlichen.
Margaret Thatcher ist im April 2014 verstorben. In einer krassen Überschätzung ihrer Bedeutung bereitete ihr die britische Regierung ein pompöses Begräbnis, das nur aus formalen Gründen nicht als Staatsbegräbnis galt. Ihre Gegner, die Leidtragenden des Bergarbeiterstreiks und deren Nachkommen, tanzten derweil auf den Straßen. In die britischen Charts zog ein neuer Song ein: „Ding Dong, the witch is dead.“ Und Arthur Scargill twitterte: „I’m still alive.“ – Helden waren diese beiden ganz sicher nicht. Radikalität und Kompromisslosigkeit ist kein guter Ratgeber in politischen Auseinandersetzungen. Das zeigt diese Oberhausener Aufführung trotz aller Schwächen überzeugend auf.