Kafka Verstehen
Ein reichlich anachronistisches Bild: der rot-samtene Bühnenvorhang in der schmucklosen Ersatzspielstätte im Düsseldorfer Central. Gespannte Erwartung. Das DT Berlin zu Gast mit Andreas Kriegenburgs Kafka–Collage aus zehn Prosatexten. Wie kann man sie ins Bild setzen, die existentielle Bedrohtheit, die klaustrophobischen Ängste, das Grauen, das in Komik umzuspringen droht, die Realitätsverschiebung, die uns an die Grenzen des Verstehens führt – eben das Kafkaeske?
Der Vorhang öffnet sich, wir sehen vier gleich möblierte, völlig verrückte - aus der Form gerückte – über- und neben- und ineinandergestapelte verzerrte Wohnräume – oder eher Käfige, Zellen? Keine Wand trifft rechtwinklig auf die andere, die Böden sind schief und geben keinen Halt. Nur das vierfach-spießige seegrüne Sofa und das Foto einer angeblichen, doch längst verflossenen Liebe darüber scheinen nicht aus der Realität gefallen. Diese ganze „alltägliche Verwirrung“ lässt uns vermuten, dass es sich um die Zimmer des Herrn Blumfeld handelt, zu denen „er jetzt diese sechs Stockwerke völlig im Geheimen hinaufsteigen müsse“ um dort „wieder im Geheimen“ sein lästiges, einsames Leben zu leben. Und dann tritt er auf, Kafkas Anton Blumfeld aus der Erzählung Blumfeld, ein älterer Junggeselle: ein Männlein im mausgrauen Anzug, beigen Pullunder, weißen Hemd, undefinierbar-brauntöniger Krawatte. Die Haare angeklatscht und streng gescheitelt. Auf der Nase eine dunkel-gerandete Brille vor dem erstarrten Gesicht. Im Näherkommen erkennen wir: er trägt eine Maske, dieser Prototyp eines Spießers. Und dann steht unvermittelt das gleiche Exemplar im Nachbarzimmer, und noch eines, ein viertes, fünftes, sechstes, siebtes. Und sie alle bewegen sich im gleichen Rhythmus, legen einen grotesken Slapstick hin, sprechen gemeinsam und miteinander, ganz ohne Sichtkontakt: eine bravouröse Schauspielerleistung! Ein furioser Start: Kafka zum Lachen!
Was wir dazu wissen sollten, berichtet eine flotte, ladylike Erzählerin (Laura Goldfarb), die uns ganz unmaskiert in elegantem Outfit durch den Abend führt und in pathetischem Ton die phantastischen Orte imaginiert: mal den „Platz vor dem Kaiserlichen Schloss“ irgendwo im Orient, auf den fremde Nomaden stürmen und einen lebendigen Ochsen zerfleischen und verschlingen; mal die ferne Oase, auf der sich die böswilligen Schakale mit reisenden Nordländern im gemeinsamen Araber-Hass verbrüdern und schließlich in einer unappetitlichen sexistischen Orgie ihre pädophilen Süchte abreagieren.
Auf all diesen Schauplätzen treffen wir die obskure Figur des Anton Blumfeld an. Seine Geschichte umklammert gleichsam die gesamte Text-Bild-Collage und er begleitet uns auch in die dunklen Gänge eines labyrinthischen, unterirdischen Baus, dem zweiten umfänglichen Textanteil dieses Abends. Während in der unvollendeten Erzählung „Der Bau“ (1923-1924) ein Tier, möglicherweise ein Dachs mit unverkennbar menschlichen Zügen, der Ich-Erzähler ist, schafft Kriegenburg in seiner Inszenierung zwingend den Transfer ins Menschlich-Alltägliche: die beklemmende, zwanghafte Fixierung auf die Perfektionierung des Erreichten, die Angst vor imaginären Feinden, die weder benannt noch bekannt sind, die Absicherung des Eigenen gegen alles Fremde, die schließlich in paranoider Panik mündet. Und als dann tatsächlich ein undefinierbares „Geräusch“ auftritt, mutet uns die Inszenierung den zunehmend besessenen Kafka’schen Sprachstrom zu, der in endlosen Sprachschleifen von immer neuen und doch immer gleichen angstbesessenen Um- und Anbauten berichtet, und letztendlich nichts als die Sinnlosigkeit dieser Sisyphusarbeit transportiert.
Das Stück wird begleitet (und auch wohl heutig interpretiert) durch kurze Einspielungen aktueller Radioberichte zu Fremdenhass und zur Flüchtlingsproblematik sowie durch Musikalische Untermalung der phantastischen Choreographie.
„Es muss etwas Ernstes in diesen Texten stecken, das dann doch nicht so ernst gemeint war“, heißt es im Programmheft. Doch, es sollte ernst gemeint sein, die existentielle Unsicherheit, das Bedrohliche und Beängstigende sollte in seinen absurden Realitätsverschiebungen nicht weggelacht werden, sollte uns aber weder zu Schakalen und Maulwürfen (oder Dachsen?) werden lassen, noch zu Anton Blumfelds. Diese Botschaft der klug verzahnten und faszinierend wie grotesk-komisch ins Bild gesetzten Kafka-Texte macht einen anstrengenden, nachdenklichen, aber zugleich ungemein unterhaltsamen Theaterabend aus. Das grandios spielende Ensemble setzt die höchst anspruchsvollen Kriegenburg‘schen Vorgaben in Regie und Bühnenarrangement in grandioses Theater um.
Ein Geschenk für das Düsseldorfer Publikum, das unter dem neuen Intendanten Wilfried Schulz mit einem breiten Spektrum interessanter Inszenierungen bedacht wurde, mit diesem Gastspiel jedoch großes, anspruchsvolles Spitzentheater in Düsseldorf erleben konnte.