Das Schicksal des multiplen Technikers
Walter Faber ist Techniker. Ein schaffender Mensch – und ein sehr rationaler Mensch. Die Technik, ihre Rationalität und Erklärbarkeit geben ihm Sicherheit. Die Bühne, die Florian Parbs für die Inszenierung des Nationaltheaters Mannheim angerichtet hat, spiegelt diese Technik wider: Zwei große Flugzeug-Turbinen säumen die hinteren Ränder, ein Propeller schwebt am Bühnenhimmel. Gleich wird er zu rotieren beginnen und wie ein Ventilator blasen. Die Maschine, mit der Walter Faber von New York nach Venezuela fliegt, wird über der mexikanischen Wüste abstürzen. Das ist der Beginn einer Serie von Ereignissen, die nicht nur Walter Fabers Leben, sondern auch seine bisherige Identität mächtig ins Wanken bringen wird. Immer, wenn sich an diesem Abend Dinge ereignen, die Fabers Leben und sein Vertrauen in die Technik erschüttern, werden die Turbinen rotieren und zeigen, dass es noch andere Mächte gibt, die den Lauf der Welt beeinflussen, als die Rationalität des Menschen.
Walter Faber, der sich, wie es Regisseur Georg Schmiedleitner ausdrückt, mit seiner (vorgeblichen?) Rationalität gegen die Zumutungen des Lebens abgepanzert hat, sieht sich mit einer Reihe von emotional aufwühlenden Erlebnissen konfrontiert. Das beginnt mit dem Selbstmord seines einstmals besten Freundes. Dann schlittert er hinein in eine Liebe zu einer jungen Frau, aus der sich nach anfänglichem Zögern auch eine sexuelle Beziehung entwickelt. Diese Frau wird am Ende sterben. Und Faber wird erkennen: Es handelte sich um seine eigene Tochter. Erschüttert ihn das? Ja, aber das vermag er sich selbst gegenüber nicht zuzugeben. Trägt er Schuld am Tode seiner Tochter? Ja, aber er nimmt diese Schuld nicht zur Kenntnis, ist, da er auf seinen Körper, auf seine irrationale Gefühlswelt nicht zu hören vermag, irgendwie schuldlos schuldig. So wie er zuvor – schuldlos oder schuldig? – verdrängt hat, dass seine Beziehung eine inzestuöse sein könnte. Homo Faber – ein Ödipus-Komplex?
Komplex auf jeden Fall: Die Geschichte von Max Frisch, die Schmiedleitner in seiner Aufführung überraschend flott und nachvollziehbar nacherzählt, ist erheblich komplexer als man denkt. Im flugtechnischen Bühnenbild beginnt die Aufführung mit dem „Last Call“ für Faber. Die Stewardessen seines später abstürzenden Fluges rufen ihn auf – und die Frauen seines ebenfalls bereits im Absturz befindlichen Lebens. Faber ist todkrank, und bald wird sich Faber zudem in den Fallstricken seiner gescheiterten Beziehungen, seines Selbstbetrugs, seines maskulinen, machistischen Weltbilds verstricken. „Homo faber est suae quisque fortunae“ – „Jeder ist seines Glückes Schmied“, soll schon der römische Zensor und Politiker Appius Claudis Caecus gesagt haben: Der technikgläubige Rationalist Walter Faber muss jedoch erleben, dass eine Kette von Zufällen ihm das Werkzeug zur Gestaltung seines eigenen Lebens aus der Hand nimmt – schicksalhafte Verstrickungen wie in einer griechischen Tragödie sind die Folge, die aus der Verdrängung von Gefühlen und eher irrationalen Schichten seiner Identität resultieren.
Doch natürlich ist auch dieser rationale Techniker komplexer als er selbst wahrnehmen will. Viele verschiedene Persönlichkeiten stecken in diesem Mann, findet Georg Schmiedleitner, und deshalb lässt er den Faber von vielen ganz unterschiedlichen Schauspielern spielen. Vier sind es an der Zahl, um es genau zu sagen: Michael Fuchs, Boris Koneczny, Reinhard Mahlberg und Jacques Malan, und die machen ihre Sache ganz famos. Weitgehend synchron spielen sie den Walter Faber zu Beginn, als er noch einigermaßen beieinander ist. Sie ergänzen sich perfekt in einer sprachlichen Collage, schauen auch mal dem anderen, gerade agierenden Teil ihrer Persönlichkeit kommentierend zu. Lange Zeit über agieren sie gleichgerichtet. Doch des todkranken Fabers Leben wird zum Road Movie, und irgendwann auf dieser Reise, als er kaum noch verdrängen kann, dass es sich bei seiner jungen Liebe um seine Tochter handeln könne, zeigt der Techniker sich mehr und mehr aus der Bahn geworfen, sieht er Fratzen, wo eigentlich freundliche Gesichter sind. Und als er der Fratze des Schicksals begegnet, als Tochter Sabeth von einer giftigen Kreuzotter gebissen wird, ist es aus mit der Synchronität der vier Fabers auf der Bühne: Mehr und mehr offenbart sich die multiple, auseinanderdriftende Persönlichkeit des Protagonisten; die vier Darsteller agieren im Verlauf der Aufführung zunehmend auf individuelle, sehr unterschiedliche Weise, bis dass sie am Ende sogar auf ganz verschiedene Art und Weise zusammenbrechen.
Erstaunlicherweise erschwert der Kunstgriff mit den vier Fabers die Rezeption der Aufführung nicht, sondern sie verleiht der Dramatisierung des dialogarmen Romans sogar zusätzliche Kraft, Spannung und Dramatik. Großartig und nicht ohne Ironie arbeitet die Mannheimer Strichfassung die Technikgläubigkeit Fabers und die zunehmende Entfremdung des Protagonisten von dieser selbst geschaffenen Identität heraus, die vor allem von der eher gefühlsbetonten, kunstbegeisterten Sabeth befördert wird. („Skulpturen sind nichts anderes als die Vorfahren des Roboters“, hatte Faber zuvor noch getönt.) Robby Schumann zaubert ab und an eindrucksvolle Lichteffekte auf die Bühne: Als Faber und sein Reisebegleiter Herbert Hencke Fabers Jugendfreund und Henckes Bruder Joachim auffinden, der sich in seinem Schuppen erhängt hat, kippt die Vorderwand der auf der Bühne platzierten Holzkiste (des einzigen nicht-technischen Bühnenelements) hinunter, und die Leiche Joachims wirft dräuende Schatten an die Wand. Erstmals erahnt der Zuschauer, dass der emotionale Kühlschrank Walter Faber bald zwangsaufgetaut werden wird, und tatsächlich agiert Faber von diesem Moment an deutlich emotionaler. Für die Atmosphäre sind aber vor allem die beiden weiblichen Darstellerinnen im Verein mit der Musik von Bastian Wegner zuständig: Almut Henkel als manchmal etwas zickige Ivy und Fabers frühere Jugendliebe Hanna sowie Michaela Klamminger als Sabeth machen ausgiebig von ihren grandiosen Singstimmen Gebrauch. Klamminger überzeugt auch schauspielerisch als unbekümmerte, lebenslustige und auf fröhliche Weise selbstbewusste Sabeth und ist damit klassischer Gegenentwurf zu Faber.
Im vergangenen Jahr erhielt das Nationaltheater Mannheim für das Gastspiel von Elmar Goerdens sehr unterhaltsam geratener Wildente den Publikumspreis des Theaters Gütersloh. Schmiedleitners Homo Faber ist anspruchsvoller als Goerdens Ibsen-Dramatisierung; umso mehr war der lange Applaus des Publikums verdient.