„Führe ich nicht die Leser hinters Licht, da ich ja doch die wichtigsten Fragen nicht zu beantworten weiß?“ Anton Tschechow
Regisseur Robert Borgmann inszenierte Tschechows Iwanow in über weite Strecken intensiv verstörender, aber faszinierender Weise. Der Abend beginnt mit diffusem Lärm aus dem Off. Man hört Pferde laufen, Motorengeräusche, Stimmen, Schritte. Dann wird es ruhig. Die Bühne ist unterteilt in hell beleuchtete und im im Schatten liegende Bauelemente. Auf einem fahrbaren Wagen liegt eine riesige Baumscheibe – Symbol des Vergehens? Iwanow – Marek Harloff spielt ihn durchgehend als antriebsarmen, deprimierten Menschen, der sich kaum bewegt und scheinbar abgekapselt von seiner Umwelt ist – sitzt mit roter Strickmütze (die Farbe ist das einzig Lebendige an ihm) auf einem Stuhl und liest. Eine Art Doppelgänger (gleiche Kleidung, eine Strumpfmaske macht das Gesicht unkenntlich) liegt unter dem Tisch. Die Menschen in Iwanows Umfeld sind fast alle mit Gott und der Welt im Unreinen und voller Selbstmitleid. Da ist der Gutsverwalter Borkin, ein nüchterner Pragmatiker. Warum er die Wienerisch sprechende Quasselstrippe geben muss, ist unklar in einem Tschechow-Stück. Graf Schabelskij (Wolfgang Pregler), ein verarmter Verwandter, fährt auf einem Kinderdreirad seine Kreise. Sophia Burtscher spielt die todkranke Anna Petrowna, Iwanows Frau, sehr überzeugend als vom Leben Enttäuschte. Wenn sie Nick Caves Lied „Girl in Amber“ singt, ist das ein gut gewähltes Mittel, ihre Verzweiflung und Einsamkeit zu veranschaulichen. Heißt es doch: „And if you want to leave, don’t breathe“ , und zum Schluss: „Don’t touch me, don’t touch me“. Burtscher glänzt auch in der Rolle der jungen Sascha Lebedew, die sich rettungslos in Iwanow verliebt und der er sich für einen Moment auch in einem emotionalen Aufflackern zuwendet. Dem Betrachter fällt es allerdings schwer, hier echte Gefühle zu entdecken. Sagt doch Iwanow auch von sich selbst: „Meine Seele ist gefesselt an Trägheit.“, später sogar: „Es gibt mich nicht mehr.“ Die Idee, beide Frauen, die Iwanow liebte bzw. meinte, zu lieben, von einer Schauspielerin darstellen zu lassen, macht Sinn.
Iwanow ist ein Gutsbesitzer, der materiell und physisch heruntergekommen ist. Kaum vierzig, verzagt er doch am Leben .Noch vor gar nicht langer Zeit war er voller Dynamik und schmiedete Zukunftspläne: „Mit zwanzig sind wir ja alle Helden. Können alles, packen alles, schaffen alles. Und dann?“ Damals heiratete er Anna, eine reiche Jüdin, die ihm zuliebe alles aufgab: ihren Glauben, die Beziehung zu ihren Eltern, ihr Erbe. Nun ist sie todkrank. Einen Kuraufenthalt kann ihr verschuldeter Mann nicht zahlen.
Iwanow bleibt als Freund nur sein ehemaliger Studienkollege Pawel Lebedew (Guido Lambrecht). Dieser ist mit Sinaida Sawischna (Sabine Waibel) verheiratet, einer geizigen Geldrafferin, die in der Ehe die Hosen anhat. Iwanow schuldet ihr eine größere Summe. Gerrit Jansen spielt den um Anna besorgten Arzt Jewgenij Lwow als in sich ruhenden, von den eigenen Prinzipien überzeugten Mann.
Im zweiten.Akt erleben wir lebhaftes Partygetümmel bei den Lebedews. Schaut man näher hin, sieht man, dass sich die Rituale und Scherze in dieser Spaßgesellschaft, wo sich alle mehr oder weniger exaltiert geben, auch nur ständig wiederholen. Auch sie sind alle auf der Flucht vor der Langeweile. Im dritten.Akt nimmt Iwanow bewegend Abschied von Anna und von Sascha. Dann nimmt er sich das Leben und entflieht über die Zuschauerreihen ins Off. Hier hätte der Abend beendet werden sollen. Aber nein. Borgmann lässt die Schauspieler alle noch einmal einen Soloauftritt haben. So steppt der Arzt ein paar Takte, nachdem er sich entkleidet hat, und schwafelt über Kunst und Künstler. Was sollen die Überlegungen zur Rolle des Theaters, was das Palaver einer Dame über Gucci-Taschen und angesagte Garderobe? Warum der krampfhaft ins Spiel gebrachte Bezug zum Hier und Heute? Dabei verblasst leider mancher gut in Szene gesetzte Eindruck von den in grenzenloser Langeweile ertrinkenden Tschechow-Figuren und der Selbstmord des Protagonisten.