Orwell‘sche Dimensionen
Das Jahr 1984 ist für uns Heutige längst Vergangenheit. George Orwell sah es in seinem 1949 geschriebenen Roman allerdings als futuristisches, beklemmendes Datum. So etwas wiederholt sich offenkundig von Zeit zu Zeit, weil der Forschungsdrang des Menschen in immer neuen Geheimnissen des Weltendaseins stochert, diese zu entschlüsseln und zu seinen Gunsten fruchtbar zu machen trachtet. Mit Bezug auf das gerade am Kölner Theater am Sachsenring (TaS) herausgebrachte Stück Die Befristeten begann vor drei Jahren die „Zeit“ einen Artikel mit folgenden Worten: „Die Gegenwart gibt sich alle Mühe, eine negative Utopie einzuholen, die Elias Canetti schon im Jahre 1952 entworfen hat.“
Dass der Schriftsteller und Aphoristiker, welcher als Todeshasser galt, das Thema des Alterns einmal angehen würde, durfte man erwarten. Die Personen von Die Befristeten kennen das Alter, welches ihnen zugemessen wurde - jeder allerdings nur für sich. Dieses Wissen wird als „größter Fortschritt in der Geschichte der Menschheit“ bezeichnet. Jeder kann mit freiem Willen und Energie die ihm zugestandene Frist optimal nutzen. „Du musst einfach wissen, was du mit deiner Zeit kaufst. Es ist deine Schuld, wenn du es dir schlecht einteilst.“ Das Leben scheint also perfekt planbar. Sind die Menschen mit dieser „Errungenschaft“ glücklich? Einer, seinem zu erwartenden Alter entsprechend „Fünfzig“ genannt, wehrt sich gegen solche Determination. Ohnehin vermutet er in dem System eine Lüge. Immer wieder ruft er im TaS aus dem Off neue Szenen auf, in welchen sich seine Zweifel konkretisieren und das Moment der Ungewissheit als für den Menschen unabdingbar reklamieren. Die allseits verteilten Kapseln mit den individuellen Lebensinformationen erweisen sich ohnehin als leer, der alles überschauende „Kapselan“ wird als lügnerischer Manipulator entlarvt.
Der oben erwähnte „Zeit“-Artikel berichtet über die amerikanische Genforschungs-Firma 23andMe. Der Name leitet sich von den 23 Chromosompaaren des Menschen ab. Für 99 Dollar wird per Speichelprobe die persönliche Veranlagung des Kunden analysiert und damit sein voraussichtlicher Gesundheitsverlauf prognostiziert. 450.000 Kunden soll es zum Zeitpunkt dieses Artikels gegeben haben.
Canetti beantwortet keine Fragen, vielmehr wirft er solche auf. Aus der Aufführung geht man nicht gerade beschwingt nach Hause, sondern verunsichert. Die Befristeten sind zudem ein strenges Thesenstück, nicht gerade ideal für ein Publikum, welches am TaS in der Regel Unterhaltendes erwartet, wie erst vor kurzem mit Alan Ayckbournes Ab jetzt. Allerdings nimmt die stringente, emotionsstarke Inszenierung des Hausherrn Joe Knipp sehr gefangen, die drei Darsteller (Heike Huhmann, Anna Möbus; Julian Baboi) gehen auf der von Hannelore Honnen symbolhaft ausgestatteten Bühne immer wieder bis zum Äußersten. Eine starke Aufführung, die Premiere mutig zwei Tage vor Weihnachten angesetzt.
Canettis Die Befristeten birst nicht gerade vor Bühnendramatik. auch Knipps kluge Regie vermag das nicht ganz zu kaschieren. So wäre auf eine vor exakt 50 Jahren entstandene Kölner Rundfunkproduktionen zu verweisen, wo möglicherweise die Konzentration auf das Wort hilfreich ist (Regie: Raoul Wolfgang Schnell; Sprecher u.a. Hans Caninenberg und Wolfgang Büttner). Die untermalende Musik schrieb Bernd Alois Zimmermann. Eine komplette Musiktheater-Version von Canettis Stück bot die Münchner Biennale 2014 mit einer Adaption durch Detlev Glanert.