Hoffnungsschimmer im Schneckenhaus
Beim „Fringe-Festival“ in Edinburgh als strahlender Sieger von der Bühne zu gehen, heißt schon was. Mit Swallow gelang das bei den letztjährigen Festspielen in Schottlands Hauptstadt der kaum 30-jährigen Stef Smith. Dass Titel täuschen oder doppelsinnig daherkommen können, zeigt sich schnell, denn statt an in den Lüften segelnde „Schwalben“, wie der Titel suggerieren könnte, erinnert das Trio des Smith-Stücks eher an am Boden zerstörte Existenzen. Da muss man nicht selten „schlucken“ – die ganz andere Bedeutung, die das englische „Swallow“ hat. Kein Wunder, schickt die bekannteste schottische Autorin doch ihrem neuesten Stück das Bekenntnis voraus: „My Body is a Prison of Pain“, sieht im „Körper“ also ein „Gefängnis von Schmerz“, „Leid“, „Qual“. Was sich in Kölns Schauspiel, bei der ersten Inszenierung des Smith-Stücks im deutschsprachigen Raum, die Matthias Köhler auf die Bühne brachte, zunächst schmerzlich bewahrheitete, aber nicht ohne Hoffnungsschimmer zu Ende ging.
Es ist die fragmentarische Geschichte von drei jungen Frauen, denen die Welt kaum zu heilende Wunden versetzt hat. Zurückgezogen haben sie sich in das Schneckenhäuschen tief sitzender Verletzungen. Da ist Anna (Nicola Gründel), die seit zwei Jahren ihre Wohnung nicht mehr verlassen hat. Sie will die Welt nicht mehr sehen, wie sie ist. Gleichwohl haben sie Witz und Humor nicht verlassen. Rebecca (Ines Marie Westernströer) ist die Radikalste des Trios. Allein gelassen von ihrem Mann, hat sie der Verletzung der Seele mutwillig eine eigenhändige hinzugefügt: Mit einer Glasscherbe hat sie sich ihr schönes Gesicht zerschnitten. Zu ihr fühlt sich Sam (Magda Lena Schlott) hingezogen. Noch ist „er“ eine Frau, doch „Samantha“, so sein/ihr erster Name, „wird es nicht mehr lange geben“, weiß er/sie. Eine Verwandlung, die noch Folgen haben wird. Die positive: Lügen und Verstellungen werden ein Ende haben. „Ich bin ich“, ist die ebenso banale wie in Smith’s Stück lebenswichtige und lebenserkennende Essenz.
Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis und einem hoffungsvollen Neuaufbruch gibt es freilich immer wieder Einbrüche, Enttäuschungen, Verletzungen. Oft sind es nur kaum zusammenhängende Gedanken, verbale Ausbrüche und Augenblicks-Gefühle, die Stück wie Inszenierung gleichwohl Geheimnisse wie Tiefe mitgeben. Matthias Köhlers Regie ist es gelungen, Swallow vom anfänglichen schweren „Schlucken“ zum befreiten „Fliegen“ zu bringen.
In der innerstädtischen „Außenspielstätte am Offenbachplatz“, einem überschaubaren wie vielfach bespielbaren Raum für 180 Zuschauer ist es schummrig. Auch die in rosarotes Licht getauchte Atmosphäre täuscht nicht darüber hinweg: Die Welt scheint aus den Fugen, ist fern, ist irgendwo da draußen. Dafür sind die Probleme umso näher. Elke Auers Spielfläche ist spartanisch, aber überzeugend. Annas Schneckenhaus liegt im dritten Stock eines Mietshauses. Dazu reicht die einem Fachwerkbau nachempfundene Holzkonstruktion mit drei Kleinstebenen. Alles ist durchsichtig, aber wenig durchschaubar. Zu erreichen ist Anna nur über die Außenstreben der Konstruktion. Mit den gesamten Raum durchziehenden Fäden hat sie ihr Heim zudem zu einem Seelen-Gefängnis verengt.
Unten, auf dem Boden des Raums und dem der Tatsachen, kommen sich Rebecca und Sam stückweise und stockend näher. Sie verlieben sich ineinander. Bis, nach kurzen und verlegenen Tanz-Rhythmen und Berührungen, Rebecca erfährt, dass Sam eigentlich nicht nur Samantha heißt, sondern eine Frau ist. Mit bis dahin in einer Art Zwangsjacke plattgedrückten Brüsten und einem Stoff-Knäuel zwischen den Beinen. Rebecca, ein weiteres Mal ge- und enttäuscht vom Leben, rast, brüllt, flucht, und scheint sich endgültig von dieser Welt zu verabschieden.
Doch es kommt schließlich - und das ist die fein angedeutete und nie penetrante Botschaft der schottischen Autorin - anders als befürchtet. Sie vergeben sich nicht nur ihr Täuschungsmanöver, die Frauen beginnen, sich zu vertrauen und umeinander zu kümmern. Aus den drei Ichs erwächst ganz allmählich ein Wir. Die Schneckenhäuser werden allmählich verlassen – und machen die Frauen frei für einen neuen Versuch im Alltagsleben.
Am Ende hat sich Anna aus ihrer Wohnung getraut, steht auf der Straße, und sieht mit Kinderaugen in die fremde neue Welt. Rebecca und Sam finden unter dem neuen Signum der Wahrheit wieder zueinander. „Innehalten nur für eine Sekunde“, werden sie. Und Antonio de Luca, der die Atmosphäre des Abends und der Inszenierung mit Musik-Fetzen, Tönen und Tonschwingungen begleitet und zugleich entscheidend mitgeprägt hat, bläst eine einfache Plastiktüte immer wieder in die Höhe: Die Seelen, die anfangs zu schlucken hatten, fliegen nun wie Schwalben durch die Luft. Ein ebenso einfaches wie schönes Bild am Ende eines in jeder Beziehung packenden, ja anrührenden Theaterabends. Riesiger, mehr als berechtigter Applaus nach 85 Minuten.