Saftiger Gurlitt, trockener Fakten-Check
Flackerndes Licht aus drei vertikal angebrachten Neonröhren. Die Windmaschine bläst in den im Dreieck von der Decke hängenden schwarzen Vorhang. Die Musik: getragen, ansatzweise dramatisch. Udo Samel, white-faced, ein Verrückter eher denn ein Clown, kriecht unter dem Vorhang hervor, der nun den Blick freigibt auf einen atelierartigen Raum, in dem unzählige Bilder mit dem Rücken zum Publikum auf dem Boden stehen. Samel schwenkt pathetisch eine rote Flagge. Er dirigiert die Musik – und er dirigiert die Spielzeugeisenbahn, in deren Mitte er steht: in einer Welt fern von den Menschen, fern von der Realität. Er steht mitten in einer Traumwelt, in der sich alles auf engstem Raum im Kreise dreht. Wir sehen: Cornelius Gurlitt, den Verrückten. Cornelius Gurlitt, den Kind Gebliebenen. Wir sehen sicher nicht: Cornelius Gurlitt wie er wirklich war.
Was für ein Mann! Was für ein Lebenslauf! Was für ein Phantom! Der reale Cornelius Gurlitt war ein Mann ohne Steuernummer, ohne Sozialversicherung, ohne Bankverbindung. Ohne feste Bezüge, denn er war auch ohne Arbeitsplatz - lebenslang. Ein Eremit, mitten im lebensfrohen Schwabing. Vielleicht ein Misanthrop – zumindest ein Mann voller Ängste. Nicht unsympathisch, wie man hört, aber misstrauisch. Vielleicht aber auch ein Kind, unselbständig und nach dem Tod der Eltern antriebslos. Vielleicht ein Paranoider – wer weiß das schon? Denn niemand hat Cornelius Gurlitt gekannt. „Er hatte niemanden außer seinen Bildern und seinem Arzt“, sagte Udo Samel in der rbb-Sendung ZiBB. So ähnlich fällt der Satz auch in Ronald Harwoods Stück Entartete Kunst – Der Fall Cornelius Gurlitt, das jetzt als Gastspiel des Renaissance-Theaters Berlin im Erholungshaus Leverkusen gezeigt wurde. Aber Gurlitt hatte 9000 Euro in der Tasche, als er im Zug von Zürich nach München an der deutschen Grenze kontrolliert wurde. Das war nicht illegal, aber merkwürdig: Das Phantom, das weder Steuer- oder Sozialversicherungsbehörden noch Banken und Sparkassen kannten, wurde auffällig. Bei weiteren Nachforschungen fand man in seiner unscheinbaren Schwabinger Wohnung 1280 Gemälde, u. a. von Max Beckmann, Marc Chagall und Otto Dix, von Kokoschka, Cézanne und Matisse. Zum großen Teil handelte es sich um das, was die Nationalsozialisten als „Entartete Kunst“ bezeichnet hatten. Der Halbjude Hildebrand Gurlitt, Cornelius‘ Vater, einer der größten Kunsthändler seiner Zeit, war nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in berufliche Schwierigkeiten geraten und hatte sich zum Schutz seiner Familie und seines Vermögens mit den neuen Machthabern auf fragwürdige Weise arrangiert: Er kaufte zu Tiefstpreisen beschlagnahmte Kunstwerke - vor allem von Juden, die das Land verlassen mussten. Sie dienten zur Weiterveräußerung und Devisenbeschaffung für das Deutsche Reich, teilweise aber auch zum Aufbau der geplanten Führer-Sammlung in Linz. Das eine oder andere blieb - legal oder illegal - im Besitz der Gurlitts und gelangte nach dem Tode der Eltern in den Besitz des Sohnes Cornelius.
Die Sammlung galt als verschollen; der Verdacht, dass es sich bei weiten Teilen um Raubkunst handelte und Restitutionsansprüche der Erben der früheren Besitzer bestehen könnten, bestätigte sich bisher in eher wenigen Fällen. Aber wie so vieles in diesem Fall ist auch das umstritten. Der kränkliche und bereits leicht demente Cornelius Gurlitt zeigte sich nach anfänglicher Starrsinnigkeit aufgeschlossen für eine faire Lösung des Restitutionsproblems. Er starb zwei Jahre nach der Beschlagnahme seiner Sammlung durch die Staatsanwaltschaft München.
Im wahren Leben gibt es Stoffe, die schreien geradezu nach einer Verfilmung. Der Fall Lucona war so einer – im Jahre 1977 ließ der Wiener Kaffeehaus-König und Society Boy Udo Proksch auf hoher See zum Zwecke des Versicherungsbetruges einen Frachter versenken, der sechs Besatzungsmitglieder in den Tod riss und zum Selbstmord eines Politiker führte. Der auf dem Fall basierende Polit-Thriller wurde zum ebenso spannenden wie vergnüglichen Kino- und Fernseh-Ereignis. Gespannt warten wir auf eine Verfilmung der Geschichte des Kunstfälschers Wolfgang Beltracchi. Im Fall Cornelius Gurlitt aber war das angeblich so langsame Theater schneller als der Film. Oscar-Preisträger Ronald Harwood hat das Geschehen wie Jack Gold bei seinem Lucona-Film zu einer Mischung aus Doku-Drama, Satire und Komödie verarbeitet. Die Uraufführung des Renaissance-Theaters Berlin fiel bei der Presse einhellig durch und ist beim Publikum erfolgreich. Für beides gibt es Gründe.
Dass der Abend grundsätzlich höchst unterhaltsam gerät, ist in erster Linie dem grandiosen Protagonisten Udo Samel zu verdanken. Zu Recht gilt er als einer der größten Komödianten des deutschsprachigen Theaters. Er schert sich nicht um das Wenige, was wir von dem realen Gurlitt kennen, sondern kreiert eine fast surreale, großartig skurrile Figur, changierend zwischen Altersstarrsinn, unvermittelter Aggressivität und pfiffiger Bauernschläue, zwischen intelligenter Verschmitztheit und Senilität. Ungewöhnlich offen ist sein Gurlitt in intimen Fragen, mit denen er den Vertreter der Staatsanwalt nervt und dessen Kollegin belästigt. Auch den Zuschauer nervt die wiederholte Ausstellung der vulgären Sexbesessenheit des alten einsamen Mannes, doch Samel nutzt auch diese Schwäche des Stückes zu einer starken Charakterzeichnung. Er denkt „immer nur ans Fuppen“ und hat gleichzeitig eine Abneigung gegen alles, was dem gehobenen bürgerlichen Lebensstil widerspricht; seine zotigen Anspielungen und Assoziationen bleiben nicht auf der (ausgiebig zelebrierten) boulevardesken Ebene, sondern er vermag die Verzweiflung des alten Mannes, an dem das Leben und die Freuden der Sexualität ungenutzt vorübergegangen sind, mit wahrhaftiger Tragik zu kontrastieren: „Sind Sie zu Hause?“ erklingt es beim Besuch der Staatsanwaltschaft aus dem Off, und Samels Blick schweift in die Ferne, abwesend, mit einem Hauch Vergeblichkeit und Resignation in den Augen: „Ja natürlich, wo soll ich denn sonst sein?“ In Reihe 7 gefriert dem Rezensenten das Herz.
Dramaturgisch weckt der vielversprechende surreale Auftakt Erwartungen, die im Folgenden nicht eingelöst werden. Denn Ron Harwood hat die Ingredienzen des Kunstwelt- und Polit-Krimis fein säuberlich geschichtet anstatt sie zu einer würzigen Mischung anzurühren: Mal gibt es Doku, mal Komödie, selten Satire. Vor und nach der Pause wird es vorübergehend langatmig: In aller Ausführlichkeit und ohne Witz und Ironie wird der Fall des Halbjuden und Nazi-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt rekapituliert. Zehn Minuten Fakten: Die Widersprüchlichkeit der Biographien von Hildebrand und Cornelius wird deutlich, aber der interessierte deutsche Feuilleton-Leser kennt sie aus wiederholter Lektüre schon allzu genau, als dass er sie noch einmal chronologisch erzählt bekommen müsse. Für Cornelius auf der Leverkusener Bühne wird ein heiliger Vater vom Sockel gestoßen, doch die brillanten Schauspieler Udo Samel und Boris Aljinovic (erster Ermittler) sowie die etwas blass bleibende Annika Mauer (zweite Ermittlerin) haben während des langwierigen Fakten-Checks kaum Möglichkeiten zu glänzen. Neue Erkenntnisse – da ist der Theaterkritik zuzustimmen – gibt es an diesem Abend nicht. Das zu erwarten, wäre wohl auch vermessen. Ironischer, peppiger aufbereitet dürften die Fakten jedoch sein. Aber Harwood hat dieses Drama nicht für ein deutsches, sondern für ein britisches und internationales Theaterpublikum geschrieben, das mit den Geschehnissen weniger vertraut sein dürfte und für das schon die bloße Realität ein Thriller ist. Zu Kürzungen oder Zuspitzungen haben sich Torsten Fischer und seine Dramaturgin Gundula Reinig angesichts der Ehre, die Welt-Uraufführung durchführen zu dürfen, nicht durchringen können.
„Eine tragische Geschichte von epischen Dimensionen“, nennt Cornelius Gurlitt die Biographie seines Vaters. Das gilt fraglos auch für ihn selbst. Sein Leben muss todlangweilig gewesen sein. Für die Nachwelt ist es – wie auch sein Charakter – faszinierend. Am 6. Mai 2014 ist der alte Mann verstorben. Auch diejenigen Bilder, die ihm unzweifelhaft rechtmäßig zustanden, hat er zu Lebzeiten nicht wiedergesehen. Er hat seine Bilder fraglos geliebt, und vielleicht war ihm wie dem fiktiven Gurlitt auf der Bühne vollkommen gleichgültig, welchen Wert sie hatten. Gut betreut hat er sie nicht. Manche befanden sich bei der Beschlagnahme der Sammlung in beklagenswertem Zustand. Aber der vorletzte Satz in Torsten Fischers Inszenierung könnte wohl auch vom wahren Gurlitt stammen. Samel-Gurlitt spricht mit den Gemälden, die als Video-Projektionen an uns vorbeiflimmern. „Eins weiß ich“, sagt er: „Wenn das Gerangel vorbei ist, werdet ihr gut betreut werden.“
Ach ... - Gestritten wird weiterhin. Das OLG München hat vor wenigen Wochen die Gültigkeit von Gurlitts Testament bestätigt, demzufolge die Sammlung dem Kunstmuseum Bern vermacht wird. Zivilrechtliche Ansprüche sind jedoch nicht ausgeschlossen. Und die Frage, bei welchen Werken es sich um Raubkunst handeln könnte, wird die Experten des Teams „Provenienzrecherche Gurlitt“ noch auf Jahre hinaus beschäftigen. Aber es ist davon auszugehen, dass die meisten Bilder am Ende in gute Hände geraten werden. Der letzte Wunsch, den Gurlitt in Harwoods Drama äußert, wird ganz sicher in Erfüllung gehen: „Vergesst mich nicht.“ – Nein, wir werden ihn nicht vergessen: nicht seine Schuld, nicht seine Tragik, nicht den scheuen Blick des gebrechlichen alten Mannes auf dem Paparazzi-Foto, das um die Welt ging nach der Entdeckung des Kunstschatzes – und nicht die abenteuerliche Geschichte seiner Sammlung. Die einen werden seiner weiter mit Hass gedenken, die anderen mit Mitleid und einer gewissen Sympathie. Aber auf eines werden wir uns einigen: Schön, dass die Bilder wieder da sind!