Jugend ohne Gott
Im Jahre 1987 hat Paulus Manker einen Film mit dem Titel Schmutz gedreht. Er handelt von einem Wachmann in einer riesigen stillgelegten Papierfabrik, die er verteidigt gegen seinen dauerbesoffenen Kollegen – und gegen den Abriss. Es sind keine Werte mehr, die der offenbar von der Welt vergessene Wachmann zu bewachen hat, und es gibt keinen Schmutz in dieser Fabrik, die er in einer Mischung aus religiöser Inbrunst und faschistoidem Ordnungswahn besenrein hält. Schmutz ist der Name des Wachmanns, den der verstorbene Theaterschauspieler Fritz Schediwy mit solch alptraumhafter Intensität verkörperte, dass seine Figur noch wochenlang im Hirn des Betrachters herumspukt. Der Film stelle, so die fast provokant anmutende Bemerkung des Rezensenten Dietrich Kuhlbrodt in der vom Evangelischen Pressedienst herausgegebenen Zeitschrift epd Film, erneut die Frage des Predigers Salomo: „Ist nichts Besseres, denn dass der Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit?“
Wir wissen nicht, ob der inzwischen höchst erfolgreiche britische Dramatiker Dennis Kelly („Waisen“) diesen Film kannte, als er im Jahre 2003 sein Debüt-Stück Schutt schrieb. Die Geschichte von Schutt geht ganz anders, aber sie hat dieselben Zutaten wie Schmutz: jede Menge blasphemisch anmutender religiöser Konnotationen, das Außenseitertum der in prekären Verhältnissen lebenden Protagonisten, die (in diesem Fall höchst reale) Bedrohung durch einen Perma-Trinker. Und auch Schutt ist nicht nur der Dreck, in dem die Personnage des Dramas zu hausen gezwungen ist, sondern der Name eines Menschen: eines Babys, das der junge Michael eines Tages auf dem Müll findet. Michael und seine Schwester Michelle träumen von Besserem, als ohne Arbeit und elterliche Zuwendung auf dem Müll zu leben. Aber sie leben in einer Welt, an der Gott das Interesse verloren hat.
„Am Anfang ist Gott“, heißt im Prolog dieses Stückes, „und ihm ist richtig beschissen langweilig … Ewigkeit und Ewigkeit wandert er herum und kratzt sich die Eier. Sonst ist nichts zu tun.“ – Abwechselnd erzählen Michael und Michelle ihre entsetzlich trostlose Geschichte. Es ist eine Horrorstory, so bizarr, so makaber, so surreal, dass wir bald nicht mehr wissen, was ist Realität und was ist die Erfindung der Geschwister. Die Geschichte ist nicht in sich geschlossen und in vieler Hinsicht widersprüchlich. Allmählich jedoch kristallisieren sich Zusammenhänge heraus. Michaels Vater ist ein – vermutlich arbeitsloser – Säufer; er tituliert sine Kinder als „Arschlöcher“ und hat sich, wie wir gleich in der ersten Szene erfahren, an Michaels 16. Geburtstag an ein vier Meter hohes Kreuz in einem Zimmer mit nur 2,60 m Deckenhöhe genagelt. (Dafür muss man halt ein Loch in die Decke bohren und den Kopf ins Obergeschoss stecken!) Vier Stunden später heißt es: „Happy birthday“ … - Die kleine Michelle musste sich mehr oder weniger selbst aus dem Mutterleib befreien, als die mit ihr schwangere Mutter an einem Hühnerknochen erstickte. Von ihrem Vater werden die Kinder vernachlässigt. Der schubst verwesende Leichen kurzerhand vom Sofa, damit er ungestört Fußball gucken kann. Die Geschwister wachsen in darwinistischer Prekariats-Umgebung auf; Michael entwickelt sogar Mordgelüste gegen seine Schwester. Schließlich verscherbelt Papa die Blagen an den pädophilen Onkel Arry, und der verhökert sie weiter an den reichen Mister Bodenschmeiß.
Michael findet das besagte Baby auf dem Müll und nährt es mit seinem Blut, das wie Muttermilch aus seinen Brustwarzen fließt. „Das ist Liebe“, heißt es in einer in Michael Lippolds Inszenierung am Bochumer ROTTSTR 5 Theater wie eine perverse Erhöhung des Elends anmutenden Szene. Tatsächlich unternehmen die Kinder nunmehr einen verzweifelten Versuch, die Utopie von einer glücklichen Familie zu leben. Auch wenn Gott das Interesse an dieser Welt verloren hat, klammern sich Michael und Michelle an die Illusion von einer heilen Welt. Sie versuchen, im Schutt gemeinsam mit dem Baby eine Art heiliger Familie zu bilden, Nähe zuzulassen, zu sorgen für ein Kind, das ohne sie keine Überlebenschancen hätte. Und was braucht die Familie aus den untersten Schichten des Prekariats, um zu einer echten Familie zusammenzuwachsen? Richtig: einen Fernseher. „Ene mene Miste, was rappelt in der Kiste“, hatten Johanna Wieking und Tim-Fabian Hoffmann schon gleich zu Beginn des Abends rezitiert. Dass damit die Flimmerkiste gemeint war, ahnten wir noch nicht. Am Ende taucht der Vater wieder auf, bemächtigt sich des Säuglings – und erstmals erleben Michael und Michelle, dass ihr Vater sprechen kann, ohne zu fluchen. Die Utopie scheint wahr zu werden – doch den Zuschauer möchten wir kennenlernen, der daran noch glaubt.
Der Fernseher als Dreh- und Angelpunkt des Prekariats, der Verkauf von Kindern an Pädophile zur Aufbesserung der Sozialhilfe – das ist wohl die Realität in manchem Milieu: Wer es nicht glaubt, frage mal die Lehrer an den Sonderschulen in sozialen Brennpunkten des Ruhrgebiets. Doch Dennis Kelly überhöht den sozialen Realismus des britischen Lower Class Dramas ins Surreale - ins Unerträgliche, werden zart besaitete Zuschauer meinen, doch mit seinem zynischen Humor, seinen makabren Metaphern und der immer wieder überraschend poetischen Sprache macht Kelly das Geschehen erst einigermaßen erträglich. Vor allem angesichts des Schlusses mit dem plötzlich Ansätze von Menschlichkeit zeigenden Vater lässt er die Deutung zu, dass es sich bei den Geschehnissen um Horror-Phantasien der Kinder handelt – um Geschichten, die diese einander erzählen, um sich gegen die Verwahrlosung in einer unbehüteten Kindheit zu stemmen. Doch diese Horror-Phantasien wurzeln in einer Realität, die Kelly, Sohn eines Busfahrers und einer Putzfrau, möglicherweise aus eigener Anschauung allzu gut kennt. Mit ihnen bannen sie die Gespenster der Wirklichkeit und verarbeiten die „Welt aus Qual und Marter“, in der sie leben.
Johanna Wieking als Michelle, ab und an ausgestattet wie eine Miss Piggy der Abfallwirtschaft, und mehr noch Tim-Fabian Hoffmann als Michael kitzeln in Michael Lippolds Inszenierung den zynischen Humor und die surreale, aber trostlose Atmosphäre des Stücks auf brillante Weise heraus und wissen mit ihrem suggestiven Spiel den Zuschauer in Atem zu halten. Auch szenisch macht Lippold den Sarkasmus und das Makabre der Vorlage deutlich: So erhellt zum Beispiel das Licht einer Diskokugel die Bühne, als die Kinder an den reichen Mister Bodenschmeiß verkauft werden: Der Missbrauch findet zumindest in einem Milieu statt, das einen Aufstieg im Klassensystem verspricht. Diese Bühne hat Lippold so einfach wie sinnfällig gestaltet: Der Schutt, in dem das Baby gefunden wird, ist gleichzeitig das Wohnzimmer der Familie, voller Müll und voller Pröll, mit umgekippten Tischen und Stühlen, auf dem Boden liegenden Baby-Sachen, zerbrochenen Bausteinen und Mörtel – und mit einem achtlos hingeworfenen Globus.
Der Globus ist Sinnbild für diese Welt, die von den Menschen und von der Politik vernachlässigt wurde. Und von Gott. Von einem Gott, der in dieser nihilistischen, grandios abgedrehten Schöpfungsgeschichte niemals ein echtes Interesse am Leben der Menschen hatte. Der wohl nicht einmal ein interessierter darwinistischer Wissenschaftler ist. Nebel wallt über dem kleinen Globus, der die Welt verkörpert. Der Nebel verdeckt Gott die Sicht. Er schaut voller Erstaunen hin und kratzt sich die Eier. Sonst ist nichts zu tun.
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