„Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“
Die Bühne ist ein schlichtes, graues Quadrat, umgeben von drei hohen, ebenfalls grauen Wänden. 289 graue Quadrattische setzte Johannes Schütz in diesem Bühnenbild zusammen. So einfach und doch auch so genial. Mit wenigen Handgriffen wird durch die Herausnahme eines Tisches ein Keller dargestellt. Mehrere geschickt ineinander gestapelte Tische symbolisieren ein Gefängnis. Und wenn sie zu großen, unordentlichen Haufen aufgetürmt werden und dazu Nebel über die Bühne wabert, so bekommt der Zuschauer das eindringliche Bild einer zerstörten Stadt vor Augen geführt. Geschickter Lichteinsatz, die musikalische Gestaltung des Abends durch Karsten Riedel, eine weiße Papierwand, die in der Mitte der Bühne herunterhängt und mal die Silhouette einer Burg darstellt, dann den Hofstaat als Scherenschnitt in effekthascherischen Posen daher stolzieren lässt - alle diese Bühnenmittel machen, zusammen mit effektvoll eingesetzten Videoprojektionen wie zum Beispiel das in Brand gesteckten Wittenberg, den Abend, in dem der Ex-Burg-Intendant Matthias Hartmann die sprachgewaltige Novelle Kleists umsetzt, zu einem Fest für die Sinne.
Die Geschichte des Pferdehändlers Michael Kohlhaas ist schnell erzählt. Auf einer Reise ins Sächsische, wo er seine Pferde auf dem Markt verkaufen will, wird Kohlhaas an der Landesgrenze mit ungewohnten Einreiseformalitäten konfrontiert. Der Herrscher der Grenzburg, Junker von Tronka, verlangt plötzlich einen Passierschein. Kohlhaas verspricht, sich nachträglich in Dresden darum zu bemühen. Als Pfand lässt er zwei seiner Rappen zurück, bewacht von seinem Knecht Herse. In Dresden stellt sich jedoch heraus, dass Tronkas Forderung jeglicher rechtlicher Grundlage entbehrt. Zurück in der Burg findet Kohlhaas seine Pferde in einem jämmerlichen Zustand vor. Herse wurde verprügelt und verjagt. Seine Klage auf Schadensersatz wird wegen der weitreichenden Verwandtschaftsbeziehungen des einflussreichen Tronka abgeschmettert. Kohlhaas‘ Frau Lisbeth kommt bei dem Versuch, beim Landesherrn Gehör zu finden, ums Leben. Kohlhaas will, blind vor Wut und prinzipientreu bis zur Selbstaufgabe, alles tun, um seinem Recht Geltung zu verschaffen. Private Rache und Selbstjustiz stehen bei Kleist der Willkür des Staates gegenüber.
Hartmann lässt Kohlhaas, einen „der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Männer seiner Zeit“, gespielt von dem überragenden Christian Erdmann, die kaum gekürzte Novelle erzählen. Zwischen den überwiegend narrativen Teilen des Abends gibt es fließende Übergänge zu Dialogen.
Es ist auch ein Abend der Schauspieler, die Kleists durchkomponierte Sätze und komplexe Satzverschachtelungen mit einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit vortragen. Beeindruckend Minna Wündrich als leidenschaftliche Lisbeth und Florian Lange als sein treuer Knecht Herse. Andrei Viorel Tacu gibt den Junker Wenzel von Tronka als ganz in Rot gekleideten smarten, leicht zickig-tuntenhaften Mann des Hofes. Reinhart Firchow ist ein in sich ruhender Martin Luther. Die anderen Ensemblemitglieder glänzen in verschiedenen Rollen, auch wenn es zum Teil nur kleinere Auftritte sind. So galoppieren sie zu Beginn als Pferde des Kohlhaas, mit Kokosnussschalen täuschend echt das Getrappel imitierend, um die Bühne herum.
Es ist müßig, alle Bilder, die beim Zuschauer im Gedächtnis haften bleiben werden, aufzuzählen. Als Beispiel sei Lisbeths Sterbeszene genannt. Sie liegt auf einem Tisch, umringt von einigen Männern. Alle tragen schwarze Barette und einen schwarzen Umhang. Das Licht ist gedämpft. Man glaubt, das Gemälde eines alten holländischen Meisters vor sich zu sehen.
Nach gut drei Stunden – Kohlhaas wurde Genugtuung gegeben, nun muss er mit dem Gang aufs Schafott für seine kriegerischen Ausschreitungen zahlen – wird es plötzlich schlagartig dunkel auf der Bühne.
Das Premierenpublikum feierte das Regieteam und die Schauspieler zu Recht enthusiastisch.