Die besseren Wälder im Schauspielhaus Düsseldorf

Ein Wolf als Ei im Schafs-Nest

War das nun eigentlich eine Premiere, die die Gäste des 40-jährigen Jubiläums des Jungen Düsseldorfer Schauspielhauses erleben durften? Oder war es das Nachspiel einer knapp fünf Jahre alten Aufführung des Berliner Grips-Theaters? Egal, wenn’s gelingt. Die besseren Wälder ist jedenfalls eine Aufführung, die unzweifelhaft ans Düsseldorfer Junge Schauspiel gehört: Der für dieses Stück mit dem Deutschen Jugendtheaterpreis ausgezeichnete Autor Martin Baltscheit ist einer der sympathischsten Düsseldorfer Promis und einer der erfolgreichsten Kinderbuchautoren deutscher Sprache, und Stefan Fischer-Fels, seit Spielzeitbeginn wie schon in den Jahren 2003 bis 2011 Leiter des Jungen Schauspiels, hat in seiner Zeit als Künstlerischer Leiter des Grips-Theaters die Uraufführung von Die besseren Wälder in Berlin verantwortet. Robert Neumanns Inszenierung war dort ein rauschender Erfolg, und sie wechselt nun angeblich unverändert, aber unter Austausch von drei der fünf Schauspieler(innen) nach Düsseldorf. Eine sechzigprozentige Neubesetzung bringt natürlich auch neuen Input durch die individuelle Persönlichkeit der Schauspieler mit sich. So viel sei vorweggenommen: Altes und neues Team harmonieren hervorragend miteinander.

Vielleicht ist es ein Migrations-Drama: Ein Wolfspaar ist mit seinem Sohn auf dem Weg in die besseren Wälder – dorthin, wo es keinen Hunger gibt und keine Armut. Vielleicht ist es auch ein Integrations-Drama, denn: „In den besseren Wäldern gibt es viele fremde Zungen. Aber wir müssen sie nicht verstehen. Wir müssen sie nur essen“, sagt Wolfs-Papa voller Vorfreude zu seinem Sohn. Selbst für einen Armutsflüchtling ist das eine ziemlich miese Argumentation, doch kaum hat Papa es gesagt, wird er auch schon – wie kurz zuvor seine Gattin – erschossen. Der süße Wolfssohn – eine Spur zu niedlich gespielt von Kilian Ponert – bleibt allein zurück. Er wird aufgefunden von denen, die man gerade noch verspeisen wollte: von einem unfruchtbaren Schafspärchen. Frauke und Wanja ziehen ihr neues Familienmitglied Ferdinand liebevoll auf, und das – ja, es ist ganz sicher ein Identitäts-Drama – legt seine wölfische Identität ab, auch wenn der Prozess der Erziehung zum mähenden Vegetarier ein wenig mühsam ist. Man könnte auch sagen: er wirkt manchmal übergriffig. Aber was will man machen, wenn man Schaf ist und einen Wolf als Ei ins Nest gelegt kriegt … - In der Kirche singt der Konfirmand Ferdinand noch ein wunderschönes Schafe Maria, doch auch ein Wolfsschaf kommt in die Pubertät, und das Leben mit der Schafsidentität fühlt sich mehr und mehr merkwürdig an. Andererseits: War das nicht bei uns genauso zu Zeiten der erwachenden Triebe? Ferdi jedenfalls verliebt sich in Melanie, ein veritables Sheep Girl. Und Melanie ist irgendwann tot. Mit durchgebissener Kehle liegt sie neben dem schlafenden Ferdinand, der auf ihrer Totenfeier sein Mäh gen Himmel heult wie ein Wolf. Nein, liebe Kinder, er hat sie nicht umgebracht, doch auf Ferdinand fällt der Verdacht. Das Stück ist noch lange nicht zu Ende …

Die Inszenierung umschmeichelt den Zuschauer mit ungeheuer viel Poesie in Sprache und Bildern, aber das Stück enthält auch ein paar böse Widerhaken zum Nachdenken: „Tradition heißt: Wenn alles so bleibt wie es ist, muss sich nichts ändern“, hören wir da als chorischen Kommentar zum Flüchtlings-Drama. Von dieser Qualität gibt es so manchen Spruch, der der romantischen Fabel in Guerilla-Manier untergejubelt wurde. Aber: Ist diese Geschichte überhaupt eine Fabel? Tilman Spreckelsen von der FAZ streitet das in seiner Besprechung des auf das Theaterstück folgenden Romans ab, denn „statt Gewissheit zu bieten, lässt sie Identitäten verschwimmen“. Auch Martin Baltscheit selbst weist auf die mangelnden Gewissheiten und Wahrheiten in unserem Leben und seiner Geschichte hin: „Manchmal ist die Wahrheit besser als die Phantasie. Manchmal nicht“, schreibt er im Programmheft zu der Düsseldorfer Aufführung. Feste Denkgerüste und Handlungsmuster engen eher ein.

Gegen die Klassifikation als Fabel spricht auch die Struktur der Handlung. Wir erleben keine Tiere, die für Menschen stehen, sondern die Grenzen zwischen menschlichen und tierischen Verhaltensmustern sind fließend. Es bereitet großes Vergnügen zu beobachten, wie die fünf Schauspieler(innen) Kilian Ponert, Julia Goldberg, Paul Jumin Hoffmann, Alessa Kordeck und Bernhard Schmidt-Hackenberg mit ihren Tierfiguren das Gehabe der Menschen auf die Schippe nehmen – vom weiblichen Zickenalarm bis zu den testosterongesättigten männlichen Hahnenkämpfen. Mit Ausnahme von Ponert müssen alle Schauspieler mehrere Rollen bewältigen – es gelingt in Windeseile, indem man sich einfach ein Wolfs- oder Schafsfell überwirft oder sich mit der einen oder anderen Requisite ausstattet. Ponert, das etwas zu süße Wolfs-Baby, wächst zum romantischen Gitarristen und Folk-Sänger heran, dem die Zuschauerherzen zufliegen, und der kontrastiert wird mit schrillen Heavy Metal Klängen seiner weniger ins falsche Korsett gezwängten Kameraden. Ein echtes Supertalent und ein ultracooler Typ ist der aus Berlin zugewanderte Paul Jumin Hoffmann in seinen Rollen als Jannis und vor allem als Beck: mit kraftvollem, körperbetontem Spiel, mit Slapsticks und tänzerischem Einsatz macht er auf Streetfighter, ein bisschen flippig, ein bisschen amerikanisiert, schlecht erzogen, aber mit dem Herz am richtigen Fleck. Der liebe, brave Wolfsschaf-Ferdi und der coole Pubi Beck bilden ein Duo wie Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow aus Wolfgang Herrndorfs Tschick.  

Im Knast der Tiere trifft Ferdinand auf eine Gans, die glaubt, sie sei ein Fuchs – eine Gans, die sich nicht fürchten muss, ist doch ein Fuchs, oder? Und er trifft einen Bären, der glaubt, er sei eine Biene. Ja, warum denn nicht, sagen Martin Baltscheit und das großartige Düsseldorfer Team in ihrem Stück. Warum soll ein Wolf kein Schaf sein können und ein Bär keine Biene? „Es kommt nicht darauf an, wo du herkommst, sondern wo du hingehst – und mit wem“, sagt Beck. Die Moral hat was von Ibsens Peer Gynt: Nicht „Sei dir selbst genug“, sondern „Sei du selbst!“ Mehr noch: „Sei, was du sein möchtest!“. - Die Gans und der Wolf pflanzen gemeinsam Blumen, und alle sauen die Bühne zum gigantischen Spielplatz ein. Die Beatles schmettern ihr „Here Comes The Sun“. Feste Denkmuster und Handlungsgerüste engen ein. Die Tiere reißen ihre Grenzen ein. Furchtbar sei das, meinte eine Lehrerin in der anschließenden Publikumsdiskussion, es breche ja das Chaos aus, wo doch vorher eine so schöne Disziplin geherrscht habe. Eine Schülerin raffte sich zu einer glasklaren Erwiderung auf: Das Ende sei doch eine Befreiung für die Tiere. Das Chaos habe vorher geherrscht – in den Köpfen der Tiere, die sich in eine falsche Identität gezwängt fühlten.

Dieses Land ist noch nicht verloren – bei solchen Schülerinnen. Die Lehrerin geht bald in Pension. Applaus!