Willkommen im Schauspielhaus Düsseldorf

Gut-Sein für lau – oder?

Bei Einlass hat das Spiel scheinbar begonnen: vier junge Tischtennisspieler zelebrieren ein perfektes Ping-Pong auf offener Bühne, die ansonsten mit einem gläsernen Aufzugschacht, komfortablen Elektrogeräten im Küchenkasten, dunklem – nicht mehr ganz neuem - Parkett und einem gediegenen Holztisch in der Mitte eine großzügige Wohnküche suggeriert. Wir treffen die fünf Bewohner einer Düsseldorfer WG mitten in ihrem monatlichen „WG-Dinner“ an, bei Tiramisu und Champagner. Der Regisseur Sönke Wortmann lässt das WG-Geplänkel um Bagatellen der Eingangsszene weg und führt gleich in medias res: Benny, ein Anglist, geht für ein Jahr als Gastdozent nach New York. Was soll in dieser Zeit mit seinem dreißig Quadratmeter großen Zimmer geschehen? Benny holt weit aus: beschwört die große Weltentwicklung, in der „wir nicht mehr in der Beobachterposition, sondern Teil einer großen Entwicklung“ sind, in der jeder einzelne nach seinen „Gestaltungsmöglichkeiten“ mitsteuern muss, schildert das Elend der Flüchtlinge im Heim gleich „um die Ecke“ und kommt zu dem Schluss, sein Zimmer Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen (herrlich selbstverliebt: Moritz Führmann).

Eine phantastische Steilvorlage: Er selbst wird weit weg sein, die vier Mitbewohner dürfen seine Idee vom Gutmenschentum realisieren. Das Ping-Pong der Argumente und Empfindlichkeiten kann beginnen. Es ist ein gescheiter Schachzug der Autoren Lutz Hübner und Sarah Nemitz, die Diskussion globaler Probleme hier in den hermetischen Raum einer Wohnküche zu verlagern und den vier verbleibenden Bewohnern „aufzutischen“. Vier Individualisten, die sich progressiv-sozial und linkshuman verstehen. Die spätfeministische Verwaltungsangestellte Doro (Cathleen Baumann), der blasse Jung-Banker Jonas (Sebastian Tessenow), die schwangere Studentin Anna (hinreißend naiv Yohanna Schwertfeger) und schließlich die stimmungslabile Hauptmieterin, die bemühte Photokünstlerin Sophie, die als Ex-Geliebte des inzwischen schwulen Benny besonders betroffen ist.

Doch was wir sehen, ist kein „Betroffenheitstheater“, sondern eine höchst unterhaltsame Komödie mit spritzigen Pointen, die durch Wortwitz, geschicktes Aufspüren menschlicher Schwächen und dem ungeheuren Wiedererkennungswert so vieler Argumente und Vorurteile - aus dem ganz alltäglichen Leben der meisten - mühelos über die neunzig Minuten der Aufführung tragen. Und über diese Zeit läuft oben an der Küchenwand eine große Uhr in Echtzeit: ein dezenter Hinweis, dass das, was hier auf der Bühne zugespitzt und verdichtet vom Regisseur im Turbo-Tempo durchgespielt wird, sehr wohl ins „echte“ Leben gehört. Zur Freude der Zuschauer, die ihre Lacher erwartungsgemäß platzieren, gelingt es den exzellenten Schauspielern, aus pragmatischen, doch zunehmend auch voraussehbaren und typisierenden Debattenbeiträgen „lebendige“ Figuren zu erschaffen und über die verhandelten Fragen hinaus eine Ebene zwischenmenschlicher Probleme anzureißen. Da werden alte Verletzungen aufgedeckt und offene Rechnungen gleich mit beglichen. Leider werden diese sporadischen Ansätze von Text und Regie nicht zur psychischen Vertiefung oder Fortentwicklung der Charaktere genutzt. Schade. Keine der Figuren wird allerdings „vorgeführt“, die wirklich bösen Argumente werden gar nicht erst vorgebracht – Pegida findet nicht statt. Ein bisschen Wahrheit, ein bisschen verständliche Sorge oder gar Angst bleibt immer nachvollziehbar. Und der Totschlag-Vorwurf: Rassismus wird, wenn er fällt, schnell wieder zurückgenommen. Es war doch alles nicht so schlimm gemeint.

Ein intelligenter dramaturgischer Einfall ist das Herbeizaubern eines echten Migranten. Ahmed, ein smarter türkischer Gelsenkirchener der zweiten Generation (Serkan Kaya) steht plötzlich im Raum: der werdende Kindsvater und neue Freund der schwangeren Anna bietet sich als Mitbewohner an. Die hypothetische und die menschlich-praktische Ebene verzahnen sich plötzlich und geben der Handlung neuen Schub und dem Eiertanz der Argumente neuen Witz und kluge Ironie. Die Realität entlarvt bald falschen Idealismus und egoistische Motive: Die erfolglose, tief gekränkte Sophie hofft vom Flüchtlings-Projekt zu „profitieren“, aus ihm „Kunst“ zu gerieren; Doro deutet Feminismus in Nacktkultur um und Jonas - mit seinem Schlips-und-Weste-Outfit ohnehin an der Grenze des Tragbaren in diesem so angestrengt alternativen Milieu – will nur seine Ruhe für die Karriere. Schließlich Benny, der Initiator der ganzen Scheinaktion, will vor allem die Option, nach einem Jahr sein komfortables Zimmer zurückzubekommen – falls er denn überhaupt zurückkommen sollte.

Das bravouröse, rasante Spiel aller Figuren kann das Klischeehafte in ihrer Anlage nicht immer überdecken und viele Lacher gehen in der Tat auf Kosten des schutzlos dargebotenen Politisch-Inkorrekten. Da darf der Deutsch-Türke seine Schützlinge gleich vier- oder fünfmal „Kanaken“ nennen und das auch noch machohaft begründen und der Schwule diffamiert Schwule so ganz nebenbei als „Schwuchteln“. Rassisten sind immer die Anderen. Oder auch die nicht?

Vielleicht sind es die Lacher im Saal?

Aber nein doch, „dass alles würde (man) da draußen auch nie laut sagen, da (ist man) tolerant und vernunftgesteuert“. Hier kann man das sagen, weil das die „Privatsphäre ist, und diese Typen da draußen sind“. (Doro, wunderbar egozentrisch, nicht nur zur Begründung, dass sie „arabische Männer nicht ausstehen kann“.)

Doch dann, wenn Sophie kraft ihres Mietrechtes gerade dabei ist, alle rauszuschmeißen und Bennys Idee auf ihre Art umzusetzen – aus welchen Motiven auch immer –, kommt der Deus ex Machina: Die Küchenwand schließt sich zur Projektionsfläche fürs Skypen und riesig erscheint Sophies Vater im Bild (der große Peter Simonischek in einer kleinen Gastrolle!!) und verbietet rigoros die Aufnahme von Flüchtlingen in die komfortable, teure Düsseldorfer Eigentumswohnung.

Alle haben hinter der Tür gelauscht. Man einigt sich schnell: Nicht Asylanten, sondern die Tischtennisplatte wird in das leere Zimmer kommen. Ein zynisches, offenes Ende. Aber wir sind ja in einer Komödie. „Man muss sehen, was kommt“, heißt es zum Schluss.

Wortmann schickt die Fünf zu einem Rundlauf an die Tennisplatte: das können sie wirklich!

Ja, Gut-Sein für lau ist feige. (Das hatte Sophie schon vorher erkannt.)

Lutz Hübner und Sarah Nemitz haben offenbar dem Volk aufs Maul geschaut und aus einer ernsten Alltagsproblematik eine wortwitzige, pointenreiche Komödie geschrieben, in der wir sympathischen Gutmenschen zusehen dürfen, wie ihr eigener moralischer Anspruch vor der Realität einknickt. Und wie schon 2012, bei Frau Müller muss weg, gelingt es Sönke Wortmann mit einem spielfreudigen Ensemble, das Düsseldorfer Publikum zum Lachen und zum Nachdenken zu bringen.

Begeisterter Applaus und Bravo-Rufe am Ende für alle.