Tod auf dem Nil im Studio-Bühne Essen

Nilkreuzfahrt mit Zickenkrieg

Im Eingangsbereich der Studio-Bühne Essen begrüßt uns der Schiffs-Steward in einem einfachen Kaftan, um uns den Weg in den Salon der Lotus zu weisen. Die ist kein feudales Luxus-Schiff wie die Karnak aus der literarischen Vorlage aus dem Jahre 1937, sondern ein Touristen-Kahn, der schon bessere Tage gesehen hat. Ob die von der Decke bis zum Boden fallenden seidigen Vorhänge eher edel oder eher schmuddelig sind, wäre erst nach einer eingehenderen Inspektion zu klären; ein einsamer Lüster zitiert den Jugendstil und stammt vermutlich von irgendeinem Essener Flohmarkt. Gemeinsam mit der behaglichen Salon-Möblierung schafft er dennoch eine sommerliche Wohlfühl-Atmosphäre, so dass wir unsere kleine Nil-Kreuzfahrt zuversichtlich und voller Vorfreude in Angriff nehmen. Dass mit dem knurrigen Steward Wolfgang Söderberg eine eher muffelige Servicekraft auf dem Boot angeheuert hat, quittieren wir gut gelaunt mit dem einen oder anderen Lacher – sowas stört den Kreuzfahrer nicht, wenn er in Ferienlaune ist. Doch bald merken wir: Unsere Mitreisenden sind grauenvoll. Auf der Lotus herrscht Zickenkrieg. Der linksliberale Adelige, der unter dem Pseudonym Smith reist, drückt das so aus: „Hier an Bord sind eine Menge Leute, die die Welt gerade nicht braucht.“

Eine Stalkerin ist unterwegs, die einem Brautpaar hinterherspioniert und offenbar schon wüste Drohungen ausgestoßen hat; die kapriziöse Braut ist nicht nur stinkreich, sondern auch widerwärtig verwöhnt; eine ältere Dame bestätigt mit stiff underlip und hochnäsigem Klassenbewusstsein unsere Vorurteile gegen das ausgeprägte britische Klassensystem und malträtiert ihre eingeschüchterte duft- und honiglose Nichte, bis es zum Fremdschämen ist. Die ganze blasierte Briten-Brut verübt schon durch ihr Benehmen einen hässlichen Anschlag auf unsere Erholungspläne. Doch dann fallen nach der bei Agatha Christie üblichen betulichen Anlaufzeit auch noch Schüsse. Zumindest einer von den Leuten, die die Welt gerade nicht braucht, ist tot. Wer der Mörder ist, verraten wir besser nicht, denn wir werden Zeuge davon, dass man besser nicht Zeuge ist, wenn einem sein Leben lieb ist. Außerdem handelt es sich bei Agatha Christies Tod auf dem Nil um einen klassischen Whodunnit, und wer wären wir denn, wenn wir Ihnen die Spannung nähmen.

Die Gästeliste sorgt zunächst für Verwirrung. Am beunruhigendsten ist, dass Monsieur Poirot gar nicht an Bord ist, den wir im Falle eines Falles zu unserem Sicherheitsbeauftragten ernannt hätten. Auch die ganze übrige Combo aus Agatha Christies Kriminalroman respektive dessen Verfilmung heißt irgendwie anders als wir es in Erinnerung hatten – oder hat wie Dr. Bessner zumindest eine Geschlechtsumwandlung hinter sich. In der Pause wurde im Publikum eifrig diskutiert und nach wörtlichen Film-Zitaten gefahndet (das Buch hatte vermutlich keiner gelesen) – aber kaum jemand wusste wohl, dass Agatha Christie höchstselbst auch eine Theaterfassung ihres Romans geschrieben und die Charaktere dabei leicht verändert und umbenannt hat. Genau genommen hatte Christie den Stoff sogar von Anfang an als Theaterstück geplant und dann entschieden, ihn lieber zu einem Roman zu verarbeiten. Als sie später für den mit ihr befreundeten Schauspieler Francis L. Sullivan eine Rolle suchte, war sie des Charakters des Meisterdetektivs Hercule Poirot überdrüssig und schuf für die nun doch noch entstehende Theaterfassung den Domherrn Pennefather, um ihm die Aufklärung des Kriminalfalls zu übertragen.  

Viele Inszenierungen des Kriminalstücks orientieren sich heute dennoch an dem bekannteren Film. Kerstin Plewa-Brodam inszeniert mit dem Personal von Dame Agathas Theaterstück. Es ist Plewa-Brodams erste Krimi-Inszenierung, und sie hatte im Vorfeld zu bedenken gegeben, dass man bei diesem Text nur wenig abstrahieren könne. Tatsächlich schnurrt Agathens schon etwas angejahrter Plot so zuverlässig und berechenbar ab wie in Buch und Film. Seien wir ehrlich: Peter Ustinov, Mia Farrow, Bette Davis, David Niven oder Jane Birkin zum Trotz ist auch die schauspielerisch gediegene Filmfassung nicht gerade eine Ausgeburt an Suspense und avantgardistischer Inszenierungskunst. Die Schärfe und Prägnanz von Plewa-Brodams Inszenierungen von Steinbecks Von Mäusen und Menschen (siehe hier) oder von Albert Camus‘ Die Gerechten (siehe hier) erreicht Tod auf dem Nil daher nicht. Es ist, was letztlich auch der weltberühmte Film ist: Unanstrengende Unterhaltung für die ganze Familie.

Plewa-Brodam benötigt die für ein kleines Amateur-Theater gigantische Zahl von zehn Schauspielern für ihre Inszenierung. Dass bei einer derart großen Zahl von Laien die schauspielerische Leistung durchaus heterogen ausfällt, kann nicht überraschen. Doch Plewa-Brodam kann auf ein paar erfahrene Studio-Bühnen-Veteranen zurückgreifen (jung an Jahren, aber Veteranen der Korumhöhe), die an jedem Stadttheater ihren Platz finden könnten. Die bereisen den Nil vor allem in den Kleidern des scheinbar etwas zu vertrauensseligen Bräutigams Simon Mostyn sowie seiner ehemaligen Verlobten Jacqueline de Severac. Sebastian Hartmann zeigt die ganze Bandbreite des Biedermanns und fürsorglichen Ehemanns und gibt ansonsten so überzeugend den langweiligen Schluffen, dass wir uns kaum wundern, mit welcher Gelassenheit er auf den ersten Mord reagiert. Aless Wiesemanns Racheengel Jackie ist dagegen eine faszinierende, charismatische Frau, deren Koketterie glaubhaft ist und die ihre Verschlagenheit hinter einer charmanten Fassade und traumwandlerisch sicheren Auftreten zu verstecken weiß. Jackie hätten wir an Simons Stelle niemals für die verwöhnte Kay eingetauscht, aber das sagt sich so leicht, wenn man im eigenen, längst abbezahlten Auto an der Studio-Bühne vorfährt und nicht knietief im Dispo watet. Kay Mostyn jedenfalls kann eine ziemlich blöde Kuh sein; schauspielerisch schwimmt sich Vera Swenshon vor allem in denjenigen Situationen frei, in denen ihre Figur unter Druck gerät. Ihr Dienstmädchen Louise Bourget entzückt durch einen wunderbaren französischen Akzent, hat aber ganz offensichtlich noch andere Qualitäten: Ann-Kathrin Hundt ist nämlich gemeinsam mit Sandra Mader auch für die vor allem bei den Damen wunderbar phantasievoll ausgefallenen Kostüme zuständig. Das Parade-Exemplar unter den Kostümen, sommerlich, aber ägyptische Motive zitierend, trägt ausgerechnet eine Dame, die ansonsten eher den herben Charme von Maggie Thatcher versprüht und der Iron Lady in ihrer Mimik tatsächlich ähnelt: Schlecht gelaunt und mit unendlichem Standesdünkel gibt Heidi Matten die herrische Aristokratin Helen ffoliot-ffoulkes, bei der wir doch entschieden auf der von der Studio-Bühne verweigerten Schreibweise des englischen Originals bestehen müssen: Die Lady wäre gern so extravagant wie sie sich schreibt.

Gegen eine solchermaßen exzentrische Frauen-Combo haben es die etwas ruhiger veranlagten Herren der Schöpfung etwas schwerer, wenn sie auffallen wollen. Der Stillste auf dem Schiff ist Ralph Evers als Smith, aber ihm hat Kerstin Plewa-Brodams und Agatha Christies Textfassung eine wunderbar lakonische Ironie zugedacht, die Evers durchaus zu bedienen weiß. Hans Rodehüser löst den Fall mit leichter lokaler, sprich: Ruhrpott-Note und der erforderlichen Gelassenheit – nicht ganz wie Peter Ustinov, aber … was soll’s: doch fast. Ach ja: Falls eine der beiden Kostümbildnerinnen auch den Damen-Friseur macht, sollte sie ihre Freundinnen nicht in die Vorstellung einladen. Sonst rennen die ihr nämlich zu Hause die Bude ein, und sie kommt nicht mehr zum Theaterspielen. Alternativ böte sich eine halbwegs lukrative Karriere bei einem Star-Coiffeur an.