Übrigens …

Faust I im Köln, Schauspiel

Faust am Flügel, aber nicht beflügelt

Wenn Philipp Pleßmann den Faust spricht, hat er das Stimmchen und die Ausstrahlung eines SPD-Ortsvereins-Funktionärs. Im Vergleich zu diesem kann er aber deutlich besser Klavierspielen. Genau gesagt: Das macht er sogar virtuos. Pleßmann ist Pianist, und an der renommierten Ernst-Busch-Hochschule für Schauspielkunst in Berlin hat er Puppenspielkunst studiert. In Moritz Sostmanns Goethe-Inszenierung spielt er die Titelfigur. Der Mann mit der suboptimalen Ausstrahlung hat den meisten Text zu schultern, aber ein Kommunikationsgenie ist er nicht. Meist spricht er mit Hilfe seines Doppelgängers, einer Puppe in halber Lebensgröße. Auf angeregte Unterhaltungen mit anderen Figuren hat der Kölner Faust keine Lust. Dennoch hätte das gutgehen können. Vereinzelt geht das sogar sehr gut:

 Links sitzt Philipp Pleßmann als Heinrich Faust am Flügel und spielt eine harmonische Weise. Rechts sehen wir den Beischlaf der Puppen: Gretchen legt sich auf den Boden und lupft das Kleid; Faust lässt sich zwischen ihren Beinen nieder. Der geile Bock rammelt etwas heftig, aber ansonsten wirkt die Szene mit den Puppen, die exakt wie die Schauspieler gekleidet und mit deren perfekt nachgezeichneten Gesichtszügen ausgestattet sind, wunderschön – liebevoll im wahrsten Sinne des Wortes. Wir wissen ja, was folgt, aber: Kann denn Liebe Sünde sein?

 Noch ein Beispiel: Man weiß noch nicht, was sich da wohl entspinnen wird zwischen dem etwas spröden Gretchen und dem langweiligen Menschen, aber tollen Musiker Heinrich Faust. Doch dann setzt sich Gretchen zu Faust ans Klavier, und die beiden spielen vierhändig. Ihr Spiel steigert sich zu einer furiosen Melodie, die sowohl die beiden Musiker als auch das Publikum mit sich hinwegträgt: Da findet sich gerade ein Paar. Oder sagen wir: Es könnte sich finden. Denn plötzlich wird ihr so, sie weiß nicht wie – Gretchen ist wieder beim bösen Goethe, der den beiden eine glückliche Liebe bekanntlich nicht vergönnt hat. - Ja, so hätte das gehen können: Immer, wenn die Musik die Hauptrolle spielt an diesem sich gegen Ende gnadenlos dehnenden dreieinhalbstündigen Abend, wenn die Puppen tanzen oder gar die gesamte Schauspieler-Truppe sich im Halbdunkel zu einem Begleit-Chor formiert, bekommt die Aufführung Rhythmus und Magie; dann spinnt sie ein faszinierendes Netz aus Melancholie, Religiosität und Düsternis. Es gibt sogar einen Künstler, der an diesem Abend ausnahmslos alles richtig macht: Es ist der Licht-Designer Hartmut Litzinger, der auf der riesigen Bühne des Depot 1 wunderbare Stimmungen schafft und kleine Preziosen der Bildenden Kunst kreiert.

 Doch all das macht vielleicht zwanzig Prozent der überlangen Aufführung aus. Meist krankt die Inszenierung an einem geradezu zwanghaften Willen zur Originalität. Das beginnt bereits mit der outrierten Intonation, derer sich viele der Darsteller befleißigen, und setzt sich fort mit einer kaum durch den Text beglaubigten extrovertierten, wenn nicht narzisstischen Spielweise der Darsteller und mit unmotivierten Albernheiten. Johannes Benecke macht aus einer viel zu langen Valentin-Szene eine unerträglich outrierte Nummer, von der man sich fragt, ob sie dem Geist der Comedy oder dem Geist des Horrorfilms folgen soll – quälend ist sie so oder so. In abgespecktem Maße gilt dies für die albernen, aufdringlich schrillen Auftritte von Guido Lambrecht als Wagner. Faust changiert bei Philipp Pleßmann zwischen einem orientierungslosen Streber und einem depressiven Würstchen – wohl auch deshalb spricht er hauptsächlich, wenn er gerade seine Puppe führt. Erst am Klavier findet er zu sich selbst – dann zieht er sich zurück in die Welt der Musik. Katharina Schmalenberg, eine der unangefochtenen Leistungsträgerinnen des Schauspiels Köln, weckt mit ihrem herben Gretchen auch nicht gerade unsere Beschützerinstinkte. Aber sie steht wenigstens dazu: „Romance is dead“ steht in großen Lettern auf ihrem dicken Winter-Parka, mit dem sie kurz vor der Pause aus dem Publikum heraus die Szene betritt. Mephisto wird von einer Frau gespielt, was möglicherweise nicht nur dem Streben nach Originalität geschuldet ist, sondern auch die Verführungskraft der Teufelsfigur beglaubigen soll. Während des Osterspaziergangs sondiert Yvon Jansen schon einmal als pinkelnder Hund das Terrain, bevor ihr erster Auftritt dann so uneinheitlich gerät wie der Rest des Abends: Einerseits lasziv, anderseits wie ein verzogen blärrendes Pubi-Mädchen versucht sie Faust einzuwickeln, was mit dieser Taktik allenfalls bei einem vertrockneten Wissenschaftler wie Goethes Heinrich erfolgversprechend sein kann. Doch zwischen Faust und Mephisto entspinnt sich nicht viel – warum die zwei den fatalen Teufelspakt miteinander schließen, dürfte dem Zuschauer, der das Drama nicht kennt, kaum klar werden. Jansens Spiel gehört später dennoch zu den kleineren Höhepunkten des Schauspiels, und sei es nur, weil es keinen Anlass zur Klage gibt.

 Natürlich steckt Sostmanns Dekonstruktion voller Ideen, und es gibt es witzige, gelungene Szenen. So spielt der Regisseur immer mal wieder spöttisch mit der so reflexartigen wie unreflektierten Aversion vieler Theaterzuschauer gegen Nacktheit auf der Bühne – oder auch mit anderen Sorgen und Nöten des Theaters. Dazu tauchen unmittelbar nach der Pause eigens drei Puppengestalten auf, die dem Insider ein Schmunzeln entlocken: Sie ähneln dem Kölner Intendanten Stefan Bachmann und dem Chef-Dramaturgen Thomas Laue (für die „Faust“-Produktion verantwortlich ist allerdings der Dramaturg Julian Pörksen); die dritte Puppe nimmt die Rolle des Regisseurs ein. Humorvolle Szenen werden in schöner Regelmäßigkeit eingestreut – nicht immer fügen sie sich so passgenau in das Stück ein wie die muntere Bootspartie der Spießer-Puppen beim Osterspaziergang. Solche kleinen Miniaturen bereiten Freude, doch dann wieder folgen quälend lange, überflüssige Szenen wie die ausgedehnte Clubbing Party kurz vor dem Final Curtain. Aus einem Guss ist das Ganze nicht, und so toll der Rhythmus der Musik auch ist – dem Schauspielabend fehlt dieser Rhythmus vollständig.

 Handwerklich phantastisch gelungen sind wieder einmal die Figuren des Puppenbauers Hagen Tilp. Jede einzelne Figur hat ihren Doppelgänger, und die Führung dieser Puppen haben die Kölner Schauspieler längst perfektioniert. Allerdings bringt der Einsatz von Tilps Geschöpfen nur in wenigen Szenen einen Zusatznutzen. Die Wirkung, die die Puppen in Sostmanns grandioser Inszenierung von Lars Noréns 3.31.93  erzielten, bleibt diesmal aus. Bisweilen deutet die Inszenierung so etwas wie Identitätskrisen der Figuren an (vor allem, durchaus Goethe-kompatibel, bei Faust). In Sostmanns besten Inszenierungen werden die Puppen zu ganz eigenständigen Charakteren, die sich zu den von den Schauspielern dargestellten Eigenschaften komplementär verhalten und diese ergänzen. Das Puppenspiel könnte also ein ideales Stilmittel zur Darstellung von Identitätskrisen sein, doch wird diese Gelegenheit im „Faust“ fahrlässig verschenkt. Nur selten – am ehesten bei Faust selbst - hat der Einsatz der Puppen an diesem Abend mehr als eine illustrative Funktion.

 So hängen wir denn schon ein bisschen in den Seilen, als die Schauspieler sich zu einer bemerkenswerten Schluss-Szene aufraffen. Kann denn Liebe Sünde sein? – Ja, natürlich, zu Goethes Zeiten war sie das. Ein uneheliches Kind führte geradewegs in die Katastrophe. Gretchen hat es umgebracht und ist an dieser Tat verrückt geworden. In Köln sitzt Grete am Ende auf einer Art Königinnen-Thron und wiegt ihr Kissen wie ein Kind. Wäre der Thron nicht so schön gepolstert, könnte man ihn glatt für den Elektrischen Stuhl halten. Sie ist gerichtet, heißt es denn auch von Frau Mephisto, und die ist selbst erstaunt, dass weder von Faust noch von sonst irgendwem ein „Gerettet“ folgt. Gott war schon in der Anfangsszene als Puppe einem Sarg entstiegen, während in hebräischer, arabischer und deutscher Sprache das Gedicht aus dem „Prolog im Himmel“ gesprochen wurde: „Die Sonne tönt nach alter Weise / In Brudersphären Wettgesang, / Und ihre vorgeschriebne Reise / Vollendet sie mit Donnergang.“ - Gott ist vermutlich längst tot, und Faust dreht ab und verschwindet durch den Zuschauerausgang, ohne sich noch einmal umzudrehen. Das ist noch einmal eine starke Szene zum Schluss. Gerettet hat sie den Abend nicht.