Die Ermüdeten oder Das Etwas, das wir sind im Mülheim, Theater an der Ruhr

Let’s Have A Party

„Wir sind eingeladen.“„Dann müssen wir dahin.“ - Das kennen wir, oder? Gespräche vor einer Party. Vor einer, auf die wir überhaupt keine Lust haben. „Kämm dich schneller!“„Ich hasse dich!“„Ich dich auch.“

Eine große Party ist jedes Jahr im Mai und Juni das Mülheimer „Stücke“-Festival, das mit der Vergabe des Mülheimer Dramatikerpreises an den Autor des von einer professionellen Jury gekürten besten in den vergangenen zwölf Monaten uraufgeführten deutschsprachigen Stücks endet. Dass wir auf die sieben vorausgewählten Stücke keine Lust hätten, lässt sich nicht sagen: Das Festival gehört stets zu den Höhepunkten des Theaterjahres. Aber man jammert immer auch ein bisschen: Hätte nicht dieses oder jenes Stück auch eingeladen und vielleicht sogar dem einen oder anderen in der Auswahl vorgezogen werden müssen? Seit 2016 machen die „Stücke“-Organisatoren auch zu diesem Thema Vorschläge und stellen außerhalb der Festival-Wochen weitere Gegenwartsstücke in Form von Aufführungen und Lesungen vor. Mit Bernhard Studlars Die Ermüdeten oder Das Etwas, das wir sind vom Schauspiel Leipzig haben sie eine wahre Perle entdeckt. Wir waren eingeladen. Dann mussten wir dahin.

Sophie Hottinger spielt eine junge Frau. Sie ist die einzige, die irgendwann einmal Lust auf diese Fête haben wird. Zunächst einmal gehört sie allerdings nicht zu den Ermüdeten, sondern zu den Lebensmüden. Über die Dächer hat sie sich auf den Balkon in der 8. Etage des Mehrfamilienhauses geschlichen, in dem der Gastgeber besagter Party wohnt. Kaum hat sie der Gastgeber, gespielt von Dirk Lange, davon überzeugt, dass Erschießen die sicherere Alternative zum Springen, aber „was trinken“ angenehmer als Erschießen ist, wird sie wieder munter und lädt sich mit Waffengewalt auf die Party ein.

Der Gastgeber und sein suizidal-nassforscher Überraschungsgast tauchen nur in kurzen Videosequenzen auf. Dafür sehen sie aus wie normale Menschen. Ihre Texte sind phantasievoll, schräg und einfühlsam gleichermaßen. Bei den Partygästen, die wir von der schlechtgelaunten Vorbereitung im heimischen Badezimmer bis zum alkoholgeschwängerten Aufbruch nach Ende der schalen Lustbarkeit begleiten, ist die Normalität so ausgeprägt, dass die Regisseurin Claudia Bauer sie nicht durch reale Gesichter darstellen lassen mochte. Die Gäste tragen die starren Masken aufgebrezelter Allerweltsmenschen, mit toupierten Frisuren als Teil der Maske bei den Damen, mit eingefrorenem Lächeln bei den Herren. Phantasievoll und einfühlsam sind diese Gäste nicht: Ihr schablonenhaftes Gewäsch dreht sich vor allem um die eigene Befindlichkeit und die zur Schau getragene politische Korrektheit. Alle Darsteller und Darstellerinnen stecken in gleich geschnittenen bodenlangen Satin-Kleidern, die in unterschiedlichen Bonbonfarben schillern. Nicht nur bezüglich der Kleidung, sondern auch im Hinblick auf ihre Texte sind Männer und Frauen nicht immer eindeutig voneinander zu unterscheiden. Dennoch haben die ins Groteske überzeichneten Figuren einen gewissen Wiedererkennungswert: Auf der Fête trifft sich die hohle ökobewegte bürgerliche Mittelschicht, die nicht nur individuell, sondern auch gesamtgesellschaftlich in der Midlife Crisis ist. Man gibt sich alternativ und ist doch längst frustriert von der eigenen Spießigkeit. Die Selbstfindungstrips endeten längst in der Sackgasse, ohne dass man sich das eingestehen mag. Man kämpft mit den ganz alltäglichen Kindererziehungsproblemen, betreibt zur Aufrechterhaltung der eigenen Selbstachtung ein bisschen Urban Gardening, ist linksliberal, Nichtraucher und politisch korrekter Karrierist. Das „Bio-Bier“, das mit orgastischem Glücks-Gestöhn begrüßt wird, sorgt wieder und wieder für kollektive Begeisterung; ansonsten herrscht angestrengte Oberflächlichkeit in der Kommunikation. 

In der hochartifiziellen Inszenierung von Regisseurin Claudia Bauer wird diese Kommunikation konsequent verfremdet. Wer sich auf der Bühne bewegt, redet nicht, sondern tänzelt in stilisierten, abgezirkelten Choreographien. Ironisch, witzig und satirisch überspritzt lässt die Inszenierung die Möchtegern-Esoteriker ein Thema nach dem anderen durchhecheln: Bio, grüne Lebenseinstellung, Sicherheitsbedürfnis, Politik, Beruf, Beziehungsprobleme. Alles bleibt inhaltsleer, oberflächlich und schablonenhaft – und fügt sich zu einer grandiosen Parodie. Die Oberflächlichkeit wird durch langsame, ernsthafte Choreographien satirisch ausgestellt; die gewollte Easiness gerät zu verkrampften Lockerungsübungen: „Dass man sich immer so anstrengen muss, um wahrgenommen zu werden“, seufzt einmal eine der bedauernswerten Figuren. Die Puppets on a String, die wortlos über die Bühne zappeln, wechseln sich ständig ab mit ihren Puppenspielern: Die Texte werden an der rechten Bühnenseite von anderen Schauspielern in die dort aufgebauten Mikrophone gesprochen, oftmals mit von der Ton-Regie verzerrten Stimmen. Wer tänzelt und wer spricht, wechselt munter durcheinander, aber chaotisch ist das Ganze nicht: Exakt sind die Einsätze der einzelnen Schauspieler durchchoreographiert; die nahezu entindividualisiert aus den Lautsprechern klingende Sprache und der meist zwischen Minimal, Club- und Lounge-Musik changierende und in den Momenten, in denen die Figuren ihre Ängste thematisieren, beschleunigte Soundtrack bilden ein virtuoses Wortkonzert.   

Die Party entwickelt sich vorhersehbar: Während eines dadaistisch anmutenden Wortspiels wird die Bühne zugenebelt; Alkohol und vielleicht auch andere Drogen bringen die Kommunikation endgültig durcheinander. Die Hemmungen nehmen ab, der letzte Rest an Vernunft, den diese Menschen noch haben, verliert sich - und die Paare einander auch. Die Fête ufert aus, die Choreographien bleiben weiterhin exakt. Zu Beginn hatten wir ein paar Sätze aus der Offenbarung des Johannes gehört, aus der biblischen Apokalypse, und die einzelnen Akte des Stücks sind mit „Krankheit“, Krieg“, Hunger“ und „Tod“ überschrieben. Das Oberflächengeplapper der Gäste legt nahe, dass diese sich längst im Prozess der Apokalypse befinden: Auf die gescheiterten Weltverbesserer kann man nicht bauen. Der Zerfall der Gesellschaft (wohl nicht nur der Partygesellschaft) äußert sich auch in einer Veränderung der Gesichter ihrer Mitglieder: Die Masken der Biedermänner und -frauen werden ersetzt durch die Köpfe von Monstern und wilden Tieren. Es gibt eine Explosion, die ein Loch in die Wand des Partyraums schlägt. Aus dem Zuschauerraum windet’s. „Deine Freundlichkeit hat etwas Gewalttätiges“, sagt der Gastgeber im Film zu seinem überraschenden suizidalen Besuch. Im letzten Teil, der mit dem Wort „Tod“ überschrieben ist, heißt es: „Im Grunde genommen bin ich der Welt egal“, und das „hat etwas Befreiendes. Ich muss nichts mehr leisten. Nicht mehr gebraucht zu werden, damit kann ich gut leben.“

Und dann … springt einer vom Balkon. Oder etwa nicht?      

Wenn Sie nach Leipzig kommen und das dortige Schauspiel Die Ermüdeten immer noch im Spielplan hat, dann kämmen Sie sich schneller: Dann müssen Sie dahin!