Übrigens …

Gefährliche Liebschaften im Oberhausen, Theater

Hitzig und vereist

Die Männer links, die Frauen geradeaus! Die Geschlechter werden getrennt, bevor Lily Sykes im Theater Oberhausen das Netz ihres eiskalten Liebesspiels um sie herum spinnt. Sie sitzen einander gegenüber, konfrontativ vielleicht, einander beobachtend, was auch immer. Wie bei einem Experiment jedenfalls. Um ein solches geht es der Marquise de Merteuil schließlich, der Chef-Intrigantin in Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos‘ Briefroman aus dem Jahre 1782, den der britische Dramatiker Christopher Hampton 200 Jahre später zu einem Theaterstück umgeschrieben hat. Der Roman wurde im 18. Jahrhundert zum Bestseller und wenige Jahre nach Erscheinen ins Deutsche übersetzt. Stephen Frears verfilmte den Stoff mit Glenn Close und John Malkovich, Michelle Pfeiffer, Uma Thurman und Keanu Reeves, Milos Forman legte einen etwas weniger erfolgreichen Film namens Valmont nach. Heiner Müller mischte sein Quartet“ aus dem Stoff, und zu guter Letzt erlebte vor zwei Jahren am Münchner Theater am Gärtnerplatz eine Musical-Fassung ihre Uraufführung. Liaisons dangereuses finden immer ein Publikum …

Eigentlich hat Gefährliche Liebschaften alle Ingredienzen zu einer erfolgreichen Telenovela. Aber um wieviel intelligenter ist dieses Intrigengeflecht aufgebaut, um wie vieles kälter beobachtet der Autor seine Figuren als die Macher von Verbotene Liebe! Die Opfer der Merteuil und ihres Ex-Liebhabers und Intrigengehilfen, des Vicomtes de Valmont, sind Marionetten eines heimtückischen Komplotts, das der Autor und sein später Dramatiker mit gnadenloser Präzision konstruiert haben. Allerdings sind Choderlos de Laclos beim Schreiben wohl die Gäule durchgegangen: Zwar wollte er die verderbte Sexualmoral und den hemmungslosen Hedonismus des Hochadels kritisieren, doch dann ließ der Autor sich von den bizarren Plänen seiner Protagonisten hinreißen und schrieb einen Text, der die Verführungsstrategien zu feiern scheint. Da ist es kein Wunder, dass eine der ersten Szenen in Lily Sykes‘ Inszenierung an die Philosophie im Boudoir“des Marquis de Sade erinnert: Die Marquise versucht der jungen, unschuldigen fünfzehnjährigen Cécile de Volanges die Freuden der Liebe, der Untreue und der Unmoral zu vermitteln. Noch als Cécile von Valmont entjungfert wird, empfiehlt die Marquise der verwirrten jungen Frau, dem teuflischen Verführer zu gestatten, „den Unterricht fortzusetzen.“ Anders als die gleichaltrige Eugénie bei de Sade wird Cécile allerdings keinen Spaß an einem permissiven, libertären Lebensstil entwickeln, sondern an ihrem einzigen sexuellen Fauxpas zugrunde gehen.   
Cécile ist eines der Werkzeuge in einem ausgeklügelten Racheplan, den die Marquise mit Hilfe Valmonts umsetzt. Céciles Jungfräulichkeit wird zu einer Art Wetteinsatz. Die junge Frau ist verlobt mit einem weiteren ehemaligen Liebhaber der Merteuil – und den will sie büßen lassen, indem seine Verlobte durch Valmont verführt wird. Valmont wiederum will seinen Ruf als unwiderstehlicher Verführer bestätigen, indem er die religiöse, extrem tugendhafte Madame de Tourvel verführt. Als Belohnung winkt eine Nacht mit der Merteuil. To make a long story short: Die Verführungen der Tugendhaften gelingen, aber bei Valmont entwickelt sich so etwas wie wahre Liebe zu der Tourvel. Das bringt die Merteuil auf die Palme, und statt ihrem Komplizen den versprochenen Platz in ihrem Bett anzubieten, zettelt die „Machiavellistin der Erotik“, wie sie der Deutschlandfunk einmal bezeichnet hat, eine neue Intrige gegen Valmont an. Am Ende werden in diesem gnadenlosen Spiel mit den Gefühlen alle verlieren. Als wahre Gefühle ins Spiel kommen, gerät die gut geölte, mechanistische Präzisionsmaschine der Manipulation ins Stocken.

Lily Sykes‘ Inszenierung hält eine perfekte Balance zwischen höfischer Eleganz, provokanter, aber niemals explizit ausgespielter Erotik und der kalten und sezierenden Präzision des Konstrukts. Tolle Kleider, Nagelfeilen oder Spiegel versinnbildlichen die Verführungskünste der Frauen – da erinnert manches an die kurz zuvor über die Bühne gegangene Uraufführung von Jelineks Modestück Das Licht im Kasten am Düsseldorfer Schauspielhaus  Verführung, sagt die Inszenierung, war auch im 18. Jahrhundert nicht nur eine Sache der Männer, aber gefährlich war sie vor allem für die Frauen. Die aristokratische vorrevolutionäre Gesellschaft wahrt bei allem Kampf um Moral und Unmoral stets den Schein, wobei die Aufrechterhaltung des Scheins für die gesellschaftliche Reputation der Damen essentiell ist, während der Vicomte als Mann offen sein Image als Verführer pflegen kann. „Ich kann nicht verstehen, wie man mit so edlen Anlagen so wenig Tugend haben kann“, seufzen die Damen – und pfeifen bald auf die Tugend, um sich den edlen Anlagen lustvoll hinzugeben.

Eine perfekte Balance herrscht auch bei der Musik und den Kostümen: Erstere ist eine gelungene Collage aus historischen Tänzen und modernen Rhythmen; die Kostüme wandeln sich vom Rokoko-Stil inklusive entsprechender hochgetürmter Perücken über historische Kleider aus dem Frankreich der 1950er Jahre bis hin zu einer fast schon modernen Eleganz.

Abgezirkelte Bewegungen gibt es nicht nur bei den Tänzen, sondern auch in den Gesprächssituationen, in denen höfischen Verhaltenszwängen Folge geleistet wird; die junge Berina Musa als Cécile demonstriert vor allem zu Beginn auch in ihren Bewegungen, dass sie in dem bösen Spiel zur Marionette werden wird. Lange trägt Cécile ein historisches rosa Kostüm – doch als Valmont, der sie kompromittieren will, ihr den angeblichen Brief von ihrem Liebhaber bringt, steht sie plötzlich – kompromittiert - im knappen Höschen da. Das mag ein Bild sein, das in einem Zeitalter, in dem sich Legionen von unbescholtenen Frauen freiwillig für Porno-Videos ausziehen, von vorgestern wirkt, aber wir verstehen: Es gibt viele Wege, auszubrechen aus den engen Korsetten der Konvention. Wenn die Beweggründe dafür unmoralisch sind, führen sie in den Untergang.   

Diesen unmoralischen und skrupellosen Verführer Valmont spielt Henry Meyer überhaupt nicht schmierig, sondern mit großer Selbstverständlichkeit und Authentizität. Doch sein Egoismus und die Brutalität, mit der er seine weiblichen Opfer zerstört, wirken abstoßend. Überzeugend gibt Elisabeth Kopp die große Strippenzieherin in diesem Komplott – offenbar eine Getriebene auch sie, eine Verletzte, die verletzen muss, um die Herrschaft über ihre Seele zu behalten. Hinreißend ist Angela Falkenhan als tugendhafte, religiöse Madame de Tourvel, die auch auf den heutigen Zuschauer keineswegs aus der Zeit gefallen wirkt: Die noch junge verheiratete Frau erscheint attraktiv und anziehend. „Warum reizt es uns, nur die zu jagen, die wegrennen?“, hatte Valmont gefragt – ja, warum eigentlich? Valmont und die Tourvel werden sich bald im nachsichtigen Dunst der Nebelmaschine lieben – sie werden die Skulptur aus tropfendem Eis umschlingen, die Henry Meyer zuvor aus dem Foyer geholt hat. Im Feuer der Liebe schmilzt das Eis der Intrige. Doch an solchem Feuer kann man sich nur verbrennen. Die Merteuil fühlt sich hintergangen, vergnügt sich mit dem Chevalier Danceny, den Cécile liebt – und bald herrscht Eifersucht allenthalben, Krieg gar, wie die Merteuil ankündigt. Und das zynische Spiel um die Liebe endet. Hitzig. Vereist. „Wenn man sich über das wahre Glück im Klaren wäre, würde man es niemals außerhalb der Grenzen suchen, die Gesellschaft und Religion einem setzen“, lautet der Schlusssatz. Susanne Burkard, die eine überzeugende Madame de Volanges (Céciles Mutter) gegeben hatte, hatte zu Valmont gesagt: „Was Sie Glück nennen, ist nichts anderes als ein Tumult der Sinne.“ Genau das hat Lily Sykes perfekt inszeniert: einen Tumult der Sinne, eingesperrt in ein höfisches Zeremoniell. Langer, langer Applaus.