Düsseldorfs Mord ohne Leiche
„Scharfer Wind – teures Pflaster“, raunte die Düsseldorfer Rockband La Düsseldorf im Jahre 1976: „Spiegelglas und Edelstahl, Mannesmann und Rheinmetall.“ - Thyssen hatte La Düsseldorf vergessen.
Scharfe Fallwinde wehen von den 94 Meter hohen Türmen des ehemaligen Thyssen-Hauses, das nach dem Umzug der Konzernzentrale von Thyssen-Krupp „nur“ noch unter dem Namen Dreischeibenhaus firmiert. Sie machen Teile des Vorplatzes oft zu einem unwirtlichen Ort. Vom Balkon auf der 22. Etage des Hochhauses aber genießt man einen überwältigenden Blick auf die Stadt. Was, wenn nicht dieses elegante, aus drei schmalen, aber knapp 100 m hohen gläsernen Glas-Kuben bestehende, um ein Stahl-Skelett gebaute freistehende Haus sollte Vorbild für die o. a. Zeile von La Düsseldorfs Opus Magnum gewesen sein? Das kantige, sich an die Architektur von Mies van der Rohe anlehnende Gebäude der Architekten Helmut Hentrich und Hubert Petschnigg bildet mit dem von ebenso eleganten Rundungen geprägten, vergleichsweise flachen skulpturalen Bau des benachbarten Düsseldorfer Schauspielhauses von Bernhard Pfau eines der spannendsten architektonischen Ensembles der Nachkriegszeit in Deutschland. Ein teures Pflaster ist die Gegend natürlich auch. Unweit von Dreischeibenhaus und Schauspielhaus befindet sich die Kö.
Dort lebte Ende bis zum Jahre 1991 Multimillionär Otto-Erich Simon. Die Kö boomte; Mitte der 80er Jahre hatte die Kö-Galerie eröffnet, die damals als eines der elegantesten Luxus-Einkaufszentren Deutschlands galt. Adresse: Königsallee 60. Die Häuser mit den Hausnummern 76 und 78 gehörten Simon: unscheinbare Billigbauten, Schandflecke der Kö, wie viele Menschen meinten. Sie weckten die Begierde der Investoren: großer seriöser Immobilienunternehmer ebenso wie windiger Halbwelt-Gestalten. Simon lud die Investoren zu Gesprächen und Verhandlungen ein. Vielleicht spielte er sie gegeneinander aus, vielleicht weidete er sich an ihrer Gier, vielleicht dienten sie seinem Zeitvertreib. Aber er weigerte sich, seine Immobilien zu verkaufen. Simon war verschlossen, menschenscheu, kaum integriert in die im Hinblick auf ihren Wohlstand zeigefreudige Düsseldorfer Gesellschaft. Er hielt es mit dem Düsseldorfer Sohn Heinrich Heine: Er vegetierte, so will es die Überlieferung, in einem dieser Häuser auf einem Matratzenlager – ärmlich, bedenkt man seinen Reichtum. Manchmal sei er verwirrt gewesen, sagt man. Seinen wenigen Freunden sagte er: „Ich verkaufe nie.“
Am 12. Juli 1991 wurde Otto-Erich Simon zum letzten Mal gesehen. Kurze Zeit später tauchten in der Schweiz beglaubigte Kaufverträge für die Grundstücke an der Königsallee auf. Ein Düsseldorfer Immobilien-Kaufmann – einer der dubiosen Art - hatte die Grundstücke, deren Wert zeitweise auf mehr als 100 Millionen DM geschätzt wurde, für 30 Millionen gekauft. Es war nicht zuletzt der Akribie des Kriminalreporters einer Düsseldorfer Boulevard-Zeitung zu verdanken, dass die Unterschriften unter dem Kaufvertrag als Fälschungen identifiziert werden konnten. Tales of Mystery and Imagination ranken sich um den Fall. War Simon mit 30 Millionen über alle Berge? Das glauben nur wenige. Doch Der Kö-Millionär blieb verschwunden. Seine Leiche sei in der Baustelle des Rheinufer-Tunnels vergraben, heißt es – sicher verstaut an unzugänglichster Stelle. Manche wollen wissen, er sei auf der Baustelle des heutigen H&M-Hauses eingemauert worden – aufrecht stehend im Beton. Der Kaufvertrag wurde rückabgewickelt, der Immobilienkaufmann der Unterschriftenfälschung und des Mordes angeklagt. Nach 140 Verhandlungstagen wurde der Prozess eingestellt – wegen einer irreversiblen psychischen Erkrankung des Angeklagten, der später regelmäßig gut gelaunt in seiner neuen Wahlheimat Mallorca gesichtet wurde. Noch heute braucht man in Düsseldorf nicht lange zu recherchieren, um zu erfahren, welcher Arzt dem Mann die Verhandlungsunfähigkeit attestiert hat. Die Hautevolee von Düsseldorf wundert sich nicht. Es gab so viele Menschen, die ein Interesse am Tod von Otto-Erich Simon hatten.
Bernhard Mikeska hat sich des Falls jetzt für das Theater angenommen. Gemeinsam mit seiner Dramaturgin Alexandra Althoff und dem Dramatiker Lothar Kittstein realisiert der Regisseur regelmäßig Projekte mit lokalem Bezug für jeweils einen einzigen Zuschauer. In Frankfurt nahm er sich in einer szenischen Installation im Bockenheimer Depot der faszinierendsten Prostituierten der Nachkriegsgeschichte Rosemarie Nitribitt an, im Schießhaus zu Weimar ließ er den Zuschauer auf seiner Wanderung zu Johann Wolfgang von Goethe mutieren, und in der Ex-Bundeshauptstadt Bonn fuhr man auch schon mal per Taxi durch die Stadt auf den Spuren der Frauen im Schatten der Macht. Jetzt gibt es Spiegelglas, Edelstahl und Matratzenlager im Dreischeibenhaus, und der Zuschauer wird zu Otto-Erich Simon – oder zu dem mordverdächtigen Hans H., seinem potentiellen Geschäftspartner.
Alle zwölf Minuten wird ein Zuschauer auf den Parcours geschickt. Kopfhörer auf, und los geht’s. Man hört Schritte – und eine erotische Frauenstimme. „Wer bist du?“, fragt sie – diese Frage werden wir uns in der nächsten Stunde selbst ein paarmal stellen. Wer bin ich – Simon oder Hans H.? Wer bin ich - ein ungestümer Playboy, der die schnellen Autos liebt, oder schlage ich mich durch mit Hosen von der Stange? Bin ich ein Raubtier oder eine Ratte, die im Rinnstein lauert? – Ganz konkret werden wir in den kommenden vier Stationen herausfinden müssen, welche Rolle wir in diesem Spiel einnehmen – und ganz abstrakt mögen wir uns auch befragen, was für eine Art Mensch wir wohl sind. Auch die Schauspieler, die uns in vier Eins-zu-Eins-Situationen bedrohlich nahe kommen, werden sich ihre Gedanken über uns machen. Denn wir setzen uns mit unserem Verhalten auch ihrem Urteil aus. Spielen wir aktiv mit in den kommenden Szenen? Zeigen wir verhaltene Reaktionen auf die insistierenden Fragen der Schauspieler? Oder bleiben wir stumm und lassen die Spieler ihren Text unbeeinflusst sprechen? – Der Zuschauer vor mir, der Zuschauer nach mir und ich – wir haben alle drei vollkommen unterschiedlich reagiert.
Zunächst lockt die erotische Frauenstimme in einen spiegelgläsern schimmernden Kubus mit der Nummer 76 / 78: zu Otto-Erich Simon. Innen entpuppt sich der elegante Kubus als ein primitives, extrem einfaches Zimmer. Rainer Philippi liegt auf einer billigen Matratze. Er hat nur eine Socke an, ein Hosenbein ist aufgekrempelt, der Krawattenknoten hängt bis zum Bauchnabel. Krank wirkt dieser Mann, der sich mühsam umdreht, nichts sagt – allenfalls ein „Na?“ Unwohl fühlt man sich, sollte man diesem Mann helfen? Doch der rappelt sich auf – und spielt mit dem Besucher wie Simon wohl mit den Investoren gespielt hat: „Ich mag dich“, sagt er: „Den Kerl, der vor dir hier war, den habe ich weggeschickt. Den mochte ich nicht.“ – Natürlich wird er auch mich wegschicken: „Du bist nicht sauber!“ – Diabolisch wirkt Philippi – diabolisch und krank.
Er verbindet mir die Augen mit seiner Krawatte. Kurvenreich werde ich zu einem Aufzug geführt. Auf der 23. Etage befinde ich mich wirklich zwischen Spiegelglas und Edelstahl: in einem noblen Bürohaus-Ambiente inklusive teurem Flügel. Konstantin Lindhorst ist der Investor: irre auch er, mit glühenden Augen schaut er mich an; er wahrt noch weniger Distanz als Philippi zuvor. Er schwärmt von seinem Zukunftsprojekt, der „Galeria 2000“. Ist es nur Gier, die aus seinen Augen schaut? Es ist schon eine krankhafte Sucht, tatsächlich bricht er einmal zusammen. Lindhorst ist ein Typ wie Sylvester Lee Fleming, der wahnsinnige Strippenzieher aus Das bessere Leben, Ulrich Peltzers Thriller aus einer hyperaktiven Wirtschaftswelt kurz vor dem Kollaps. - Fleming sahen manche Kritiker sogar als eine moderne Version des Teufels. Und tatsächlich ist Mikeskas Inszenierung weit mehr als ein ästhetisch überhöhtes Spiel mit einer Kriminalgeschichte. Die dritte Haut – das ist in der psychoanalytischen Denkweise das Haus – mit dem Keller als dunkler Teil der Persönlichkeit, dem Erdgeschoss als Kontaktebene (das „Ich“) und dem Dachgeschoss als Über-Ich, zuständig für die kritische Selbstbeobachtung und die eigenen Idealvorstellungen. Funktioniert dieser Aufbau des eigenen Persönlichkeits-Hauses nicht, wird der Mensch krank und entwickelt Neurosen. Mikeskas Inszenierung formuliert auch eine Kapitalismuskritik; sie blickt dabei vom Dreischeibenhaus auf ein typisches Stück Düsseldorf hinab. Sie handelt von Persönlichkeitsveränderungen, von Realität und Fiktion – und sie demonstriert all das am lebenden Objekt: am Zuschauer.
Eine düstere Alpha-Frau in einem schwarzen Einteiler, die einem Science Fiction Film entsprungen zu sein scheint, holt mich aus Lindhorsts Luxusbüro ab. Sie fixiert mich durchdringend, mit unbeweglichem, vollkommen emotionslosem Blick. Der Aufzug bringt uns wieder nach unten. Wortlos führt mein unheimlicher Guide mich durch ein Labyrinth von klinisch sauberen, vollkommen leeren Kellerräumen und-treppen, hinab in immer tiefere Unterwelten. Aus meinen Kopfhörern dringt eine Filmmusik wie aus einem Psycho-Thriller. Auf den Treppen ins dritte Untergeschoss muss ich vorausgehen – die geheimnisvolle und bedrohlich wirkende Lady ist hinter mir. Unsicherheit breitet sich aus: Was wird sie mit mir anstellen? Nach langem Marsch durch die Katakomben öffne ich die Tür und finde Andreas Grothgar, in der hintersten Ecke des Kellerraums liegend, mit dem Rücken zum eintretenden Besucher. Ihr, die ihr eintretet in die dunkleren Schichten der Persönlichkeit, lasset alle Hoffnung fahren? Das Spiel von Werbung („Ich mag dich“) und Zurückstoßen („Du miese Ratte“) beginnt erneut, aber diesmal bin ich Simon und Grothgar ist Hans H.. Gekleidet aber ist Grothgar wie Philippi in der ersten Station: In ihrer Gier, in ihrem Irrsinn, in ihrer Krankheit sind Käufer und Verkäufer gleich, nahezu ununterscheidbar.
Und so bringt mich eine der Höllengestalten in den schwarzen Einteilern wieder nach oben auf Etage 22. Tabea Bettin begrüßt mich mit den gleichen Worten wie Philippi zu Beginn. Der Raum, in dem sie auf einer Matratze sitzt, ist exakt gleich ausgestattet wie der erste. Aber nach und nach wird deutlich: Ich bin wieder Simon, und jetzt geht’s mir an den Kragen. Plötzlich herrscht Stille in meinen Kopfhörern. Blackout. Totales Dunkel. Otto-Erich Simon spürt nichts mehr. „Gehe hinaus auf die Brüstung“, meldet sich die erotische Stimme vom Anfang noch einmal. Lockt sie zum Sprung? Oder zu Otto-Erichs Himmelfahrt?
Nichts davon. Wunderschön ist der Ausblick auf das nächtliche Düsseldorf. Simons Leiche wurde nie gefunden. „Über dir ist der Himmel, unter dir liegt die Stadt“, haucht die Verführerin. „Und wo bist du?“