Vergeblicher Aufruf zur Mäßigung (1)
Medeas Kinder sieht man nicht so oft. Die meisten Regisseure umgehen deren Live-Auftritt, obwohl sie ja der Anlass des ganzen Spektakels sind, das Euripides, Grillparzer, Hans-Henny Jahnn oder all die anderen Autoren, die sich mit der Kindermörderin und ihren Opfern befasst haben, veranstalten. Schulstress, Jugendschutzgesetze, schauspielerische Professionalität – es gibt alle möglichen Gründe, um auf Kinder im Abendtheater zu verzichten. Nicht zuletzt deren Unberechenbarkeit: Nie werden wir die Geschichte von Klaus Weises Inszenierung aus der Spielzeit 2007/08 am Theater Bonn vergessen. Am Ende der Aufführung sollte man durch einen Sehschlitz die Beine der toten Jungs baumeln sehen. Doch in der Premiere baumelte nur eines der Kinder – das andere hatte plötzlich Angst bekommen.
Bei Roger Vontobels Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus spielen die Kinder schon munter vor dem Haus, als das Publikum eingelassen wird. Sie bleiben stets präsent - im Blickfeld von Medea, die sie hasst und liebt, die sie töten wird und liebkost, die sie schützen will und doch instrumentalisiert zu Überbringern einer tödlichen Fracht, die die gesamte Familie und den ganzen Königshof zerstören wird. Sie müssen sterben, weil Medea sie „nicht der Hand des Feindes überlassen“ kann. Der Feind, das sind ihr pragmatisch-freundlicher, ein wenig feiger Mann und ein schwacher, sich zur Härte zwingender König - eigentlich ziemlich harmlos wirkende Typen. Es sei doch alles halb so schlimm, sagt Jason daher auch, denn er werde sich ja nach Medeas Verbannung um die Kinder kümmern. Fast möchte man ihm zustimmen - und wundert sich, dass Medea nicht ein einziges Mal mit der Mutterliebe argumentiert, die eine lebenslange Trennung von den Kindern nicht ertragen kann. Die Liebe wird haushoch von Rache- und Hassgefühlen überragt.
„Da sie nun einmal sterben müssen, nehm‘ ich das Leben, das ich ihnen gab, auch selbst zurück“, sagt Jana Schulz als Medea, zieht sich ihr schlabberiges Oberteil über den Kopf und geht ins Haus, um ihre Söhne zu ermorden – barbusig, so wie sie einst die Kinder säugte. Immer wieder hatte sie den Kindern zuvor davon gesprochen, dass sie „ein anderes Leben führen“ würden – in einer Doppeldeutigkeit, die die Kinder nicht verstehen konnten. Tatsächlich baumeln keine Beine im Wind, keine blutigen Knäuel sind zu besichtigen, sondern die Kinder gehen am Ende ab. Unspektakulär verlassen sie Medeas und Jasons Haus in Richtung Theaterfoyer. Dort, im Jenseits, mag ein anderes Leben auf sie warten. Zu Salzsäulen erstarrt stehen die vier Mitglieder des Chors um das Haus herum, in dessen leerer Fensterhöhle Medea kauert, lauernd wie ein Aasgeier: „Deine Kinder sind nicht mehr“, sagt sie zu Jason. „Hekate“ hat jemand als Graffito auf die Rückwand des Hauses geschmiert – den Namen der Wächterin über die Tore zwischen den Welten, den Namen der Göttin der Hexerei und damit der Muse der fremden Zauberin Medea.
Dieses Haus ist der einzige Blickfang auf der ansonsten leeren Bühne. Muriel Gerstners Bühnenbild ist eine Enttäuschung: ein langweiliger, ein wenig unterdimensionierter Spanplattenbau, der um sich herum viel zu viel Raum auf der öden, kaum bevölkerten Spielfläche lässt und nichts, aber auch wirklich gar nichts fürs Auge bietet. Aber als Metapher leuchtet er ein. Im Griechischen, so erläutert die Dramaturgin Felicitas Zürcher, gibt es kein eigenes Wort für Familie – es ist dasselbe Wort, das man für Haus benutzt. Und dieses Haus ist von vorn noch ein unfertiger Rohbau, während es von hinten kurz vor dem Einsturz steht, vergammelt und schief, mit abblätterndem Putz und einem Dach, das nicht mehr auf tragfähigen Mauern ruht.
Die Inszenierung selbst bleibt hinter Vontobels stärksten Arbeiten in NRW zurück. Als Teil seiner Grillparzer-Inszenierung Das Goldene Vliess hat er den Stoff vor zehn Jahren am Schauspiel Essen bereits einmal flüssiger, vor allem aber von Beginn an spannend bewältigt. Bei Euripides jedoch ist Medea, so kraftvoll, emotional und blutrünstig die Titelfigur auch ist, über lange Strecken auch ein reichlich statisches Drama. Dem droht Vontobel am Düsseldorfer Schauspielhaus in der ersten halben Stunde auf den Leim zu gehen. Doch gegen solche toxischen Gefahren verfügt der Schweizer Regisseur über zwei bewährte Zaubermittel. Da ist zum einen der großartige Musiker Keith O’Brien, der bereits Vontobels Nibelungen, seinen Richard III undWas ihr wollt am Schauspielhaus Bochum musikalisch veredelt hat. O‘Brien sitzt auch diesmal am Mishpult, bedient seine E-Gitarre und sorgt für zunehmend mitreißende, vor allem gegen Ende dramatisch anschwellende Rockmusik. Und da ist zum anderen eine der besten deutschsprachige Schauspielerinnen ihrer Generation, mit der Vontobel bereits seit gemeinsamen Studientagen zusammenarbeitet: Da ist Jana Schulz.
Was Schulz an diesem Abend abliefert, ist spektakulär. In den ersten Minuten sieht man sie nicht, man hört sie nur: Wie sie barmt und schluchzt, wie sie heult und schreit im Inneren dieser Baracke, in der sie fremd und unbehaust ist, hat etwas von der für nordeuropäische Befindlichkeiten übertriebenen, ostentativ nach außen getragenen mediterranen Trauerbewältigung, die wir auch auf griechischen Beerdigungen erleben. Aber es geht durch Mark und Bein. Und dann öffnet sich die Tür des Hauses, und Jana Schulz erscheint: unscheinbar, verhärmt, im Schlabbershirt, mit wirrem Haar und irrem Blick. Wie ein Stromstoß wirkt der erste Auftritt der Medea. Wir erleben einen dieser seltenen magischen Momente im Theater: Eine Schauspielerin erscheint, tut erstmal gar nichts – und erzeugt Spannung. Doch mit dem Gar-Nichts-Tun ist es in Sekundenschnelle vorbei. Frau Schulz dreht auf – und spielt einen Charakter, der so schlüssig ist, wie nicht zu fassen. Diese Frau hasst, wie ein Mensch nur hassen kann, sie leidet, wie ein Mensch nur leiden kann; zwischendurch erfasst sie eine unbedingte Liebe zu denjenigen, die sie zuvor noch als ihre „verfluchten Kinder“ beschimpft hatte und die sie gnadenlos und mit falscher Zärtlichkeit auf dem Altar ihrer Rache opfern wird. Jana Schulz windet sich in Krämpfen, zuckt am ganzen Leib, würgt sich die Seele aus dem Leib – und plant berechnend ihre Morde, umarmt schützend und liebend ihre Kinder, umgarnt mit glaubhafter und souveräner Rationalität ihren verhassten Mann. Als Enkelin des Halbgottes Helios verfügt sie über Zauberkräfte: Sie setzt sie ein als zugewandte Heilerin gegenüber dem Athener König Aigeus und als bestialische Rachefurie gegenüber Kreon und Kreusa. Aigeus kommt zu Medea mit dem Wunsch nach Kindern, und voller Empathie versucht sie ihm zu helfen – sie, die längst den Entschluss gefasst hat, ihre eigenen Kinder zu töten. Schulz spielt das leise, berührend und zärtlich – und dann wieder bricht sich der Rachedurst Bahn: „Ich bin Medea, den Freunden wohlgesinnt und den Feinden schrecklich!“. Mit übermenschlicher Kraft dreht sie das Haus, das nun auch seine verfallene Rückseite offenbart.
Gegen die Kraft und die Unbedingtheit, die in Jana Schulz‘ Spiel liegen, haben es die übrigen Schauspieler schwer. Vontobel setzt ausschließlich auf seine Protagonistin. Dennoch bleibt Torben Kessler als Jason in Erinnerung. Er ist einer von uns, in Stoffhose und hellem Sporthemd, eigentlich ein Sympathieträger, der den Zynismus, der in seinem Handeln und in seinen Worten steckt, gut zu verbergen mag. Etwas langweilig ist er vielleicht – seine Verbindung mit der exotischen, emotionsgeladenen Medea mutet ähnlich überraschend an wie die von Hedda Gabler mit Tesman. Was hat er schon getan – aus Liebe oder (wie eher zu vermuten steht) aus Pragmatismus eine andere geheiratet: Das war schon vor knapp 3000 Jahren ganz normal, wie der Chor weiß. Medea, so scheint es, hätte bei dem seine Schwäche hinter einer steifen Körperhaltung und einem maskenhaften Auftreten verbergenden König Kreon (androgyn im goldenen Anzug Claudia Hübbecker) sicher die Chance, das Diktum ihrer Verbannung revidieren zu lassen. Aber der hat der Hass nicht nur die Seele zerfressen, sondern sie zu einer multiplen Persönlichkeit umfunktioniert.
Während die Chorführerin (Michaela Steiger) starr vor Entsetzen vom Todeskampf Kreusas berichtet, wiegt sich Medea im Tanz. Es ist ein schaler Triumph. „Ich wünsche mir Mäßigung / schönste Gabe der Götter / So nur bleib ich verschont / von zermürbendem Zank und streitendem Zorn“, hatte der Chor wieder und wieder in beschwörendem Sprechgesang gemahnt. Die Kunst der Mäßigung ist Medea nicht gegeben – in der Liebe nicht, und im Hass noch weniger. Welch ein Glück, dass diese Kunst auch Jana Schulz an diesem Abend nicht gegeben ist!