Übrigens …

Der Auftrag - Erinnerung an eine Revolution im Theater Duisburg

Revolutinonäre mit einem lachenden und einem weinenden Auge

Unter dem Titel Umbrüche will sich das Duisburger Kulturfestival AKZENTE in diesem Jahr mit den „tief greifenden Veränderungen in Kultur, Politik, Gesellschaft – aber auch in individuellen Biografien“ auseinandersetzten. Das Herzstück dieses Festivals ist alljährlich das Theatertreffen, zu dem für die Zeit vom 10. bis 23. März renommierte und auch preisgekrönte Inszenierungen u. a. aus Wien, München und Berlin eingeladen wurden. Das Thema legt nahe, mit einem Revolutionsstück zu starten.

Heiner Müller schrieb das Stück Der Auftrag – Erinnerungen an eine Revolution im Jahr 1979 in der damaligen DDR, in einer Zeit bleierner Verödung nach dem Exodus der Kulturschaffenden. Die Euphorie der eigenen Revolution war zur Erinnerung geworden und das Gehabe der Revolutionäre mehr oder weniger zur reinen Maskerade. Andere persönliche Erlebnisse kamen hinzu: so die Begegnung mit Anna Seghers 1978 bei seinem Besuch in Mexiko, deren Erzählung Das Licht auf dem Galgen (1961) zum Kernstück seines Textes wurde. Es geht um den Auftrag dreier Abgesandter der Französischen Revolution, auf Jamaika einen Sklavenaufstand zu organisieren, der aber scheitert, weil Napoleon inzwischen in Frankreich die Macht übernommen hat. Die Welt wird wie sie war, eine Heimat für Herren und Sklaven“, resümiert Müller. Er bearbeitete den vorgefundenen Stoff jedoch nicht zu einer durcherzählten Fabel, schuf vielmehr einen Fließtext (oder eine Textfläche), in der er verschiedene Textformen, Episoden, Bruchstücke diverser Erinnerungen, Fetzen unterschiedlicher Zeitgeschehen, Allegorien und Traumprotokolle ineinander montiert. Faszinierend surreal dabei der lange Monolog eines Mannes im Aufzug, eines Angestellten, der im Paternoster unterwegs zu seinem Chef im oberen Stockwerk ist, um dort einen geheimnisvollen Auftrag zu erhalten. Der Aufzug verfährt sich jedoch und landet in einer bizarren Traumlandschaft in Peru. Eine Szene, in der Müller seine Audienz bei Honecker verarbeitet und die ihm gewährten Reiseprivilegien, die er letztendlich als Selbsterniedrigung empfand.

Zur Eröffnung des Theatertreffens ist der große Theatersaal in Duisburg voll besetzt. Wir schauen auf einen voluminösen rot-glitzernden Vorhang, der mich an ein Varieté-Theater oder eine Zirkusbühne erinnert. Nein, an frisches Blut, behauptet meine Begleiterin.

Da erfasst uns der krasse Widerspruch der zu erwartenden Inszenierung mit voller Wucht, bevor sich der Vorhang öffnet: die Leichtigkeit des Spiels neben der Gewalt des Textes. Schwer und rau dröhnt die Stimme Heiner Müllers aus dem Mikrofon seitlich der Bühne. Eine Originalaufnahme aus dem Jahr 1980. In Leipzig bei einer Lesung aufgenommen. Ohne Pathos, fast monoton, alle Rollen im gleichen Tonfall. Keine „szenische Lesung“, so erklärt der Dichter am Anfang ein wenig unwillig. Leichte Nebengeräusche dokumentieren die historische Echtheit.

Live-Musik ertönt aus dem Orchestergraben, Vorhang auf: eine riesige Teekanne mit leicht kitschigem, biedermeierlichem Rosendekor tanzt über die Bühne. Ein greller Kontrast zur schwerwiegenden Botschaft aus dem Off, die die ganze Schwere des Müller-Textes in einem Brief vorwegnimmt: Scheitern und Verrat sind das Thema. Zwei der Ausgesandten wurden gemartert und gehängt, der dritte aber schlüpfte zurück in seine bürgerliche Maske, (in die Teekanne!) verleugnet und verrät die anderen: „Ich kenne keinen Gallondec“ und „Ich weiß von keinem Auftrag“, dröhnt es mehrfach zum albernen Getänzel auf der Bühne. Eine makabre Szene gleich zu Beginn, die in der wiederholten Verleugnung etwas Biblisches hat.

Der Gegensatz oder gar Widerspruch zieht sich durch die gesamte Inszenierung: von außen die Schwere des Müllertextes, auf der Bühne zirzensische Leichtigkeit, varietéhafte Gestik bis zur Übertreibung, wortloses, pantomimisches Spiel. Dabei schaffen die tonlosen Mundbewegungen und Typisierungen – etwa in der Allegorie der ersten Liebe - Atmosphären zwischen Groteske und Bedrohung.

Hinreißend die Fahrstuhlszene von Corinna Harfouch als Pierrot, die - mit leicht sächsischem Akzent von ihr selbst gesprochen! – den real-historischen Bezug zur Honecker-Audienz charmant ins Surreale zieht und überleitet in das Traumprotokoll eines „Angstgangs durch die Dritte Welt“.

Montiert, wie die Texte, sind auch die höchst unterschiedlichen Spielformen, die gleichsam eine „Versuchsanordnung“ bilden und ganz im Sinne des Autors die kausalen Zusammenhänge außerkraftsetzen: ein Video von Billie Holiday steht neben bizarren Puppenfiguren, die als „Theater der Revolution“ den Konflikt zwischen Danton und Robespierre ironisieren; und schließlich erscheint das gesamte Revolutionspersonal, die Herren Stalin, Marx, Mao, Lenin, Che Guevara gemeinsam mit Rosa Luxemburg mal live, jedoch leicht entrückt hinter einer Gazewand, mal groß als Projektion darauf. So gewichtig die dabei eingesprochenen Texte auch sein mögen, hier hätte eine Kürzung dem Anliegen nicht geschadet.

Unter den von Müller gleichmäßig eingelesenen Text und das kontrastierende Spiel auf der Bühne legen die vier „Tentakel von Delphi“ Musiker (am Schlagzeug Hannes Gwisdek, Sohn von Corinna Harfouch) eine Tonspur, die die Monotonie der sperrigen Männer-Stimme sinnvoll strukturiert.

Die Inszenierung, die im Juni 2015 schon bei den Ruhrfestspielen ihre erste Premiere feierte (siehe dazu theater:pur „Im Varieté der Revolution“ von Dietmar Zimmermann), dann im Schauspiel Hannover und bei den Wiener Festwochen 2016 zu sehen war, wurde im Oktober 2016 auch nach Minsk zum Festival TEART eingeladen, nach Weißrussland, in die „letzte europäische Diktatur“, wie es gelegentlich heißt. Interessant ist die Reaktion des Publikums dort, die der Dramaturg Johannes Kirsten als äußerst intensive inhaltliche Debatte beschreibt, während die ungewöhnlichen Formen der Darbietung völlig irrelevant blieben. Waren die Antworten der Regisseure Tim Kühnel und Jürgen Kuttner auf die Frage: Und warum Auftrag? Warum heute? im Programmheft noch etwas vage, so dürften ihre Begründungen nach Minsk neue Relevanz erhalten.