Diese Geschichte von Ihnen im Theater Duisburg

Der Täter in jedem von uns

Heute Abend dürfen die Türsteherinnen mitspielen: pünktlich um halb acht heben sie holzschaufelähnliche Gebilde vor die Notbeleuchtungen über den Eingängen und dann geht alles Licht aus: absolutes Dunkel im Saal und auf der Bühne. Honni soit, qui mal y pense! Ja, ein Schelm, wer da an den Salzburger Bühnenskandal von 1972 denkt. Damals sollte auf Anordung des Regisseurs Claus Peymann bei der Uraufführung des Thomas-Bernhard-Stücks Der Ignorant und der Wahnsinnige am Ende des Stücks komplette Finsternis herrschen. Wider alle Absprachen mit der Verwaltung, brannten bei der Festspiel-Premiere die Notlichter dann doch. Peymann und Bernhard – damals ein enges Künstler- und Arbeitsteam – setzten das Stück ab, man landete vor dem Bühnengericht. Zwölf Jahre später ironisierte der Autor das Geschehen in seiner Komödie Der Theatermacher, wenn er seinen Helden sagen lässt: „In meiner Komödie hat es am Ende vollkommen finster zu sein, auch das Notlicht muss gelöscht sein, vollkommen finster, absolut finster, (sonst) ist mein Rad der Geschichte vernichtet.“ (Dies für die Älteren unter uns ein Erinnerungs- für die Jüngeren ein Schmunzeleinschub.)

Andrea Breth startete damals ihre außergewöhnliche Regiekarriere und erhielt schon ein Jahr später die Auszeichnung als Regisseurin des Jahres und eine Einladung zum Theatertreffen in Berlin. Wie gesagt: Ein Schelm wer da nicht ….

Hopkins verlangt in seiner minutiös entfalteten Regieanweisung allerdings nicht wie damals Peymann „vollkommene, absolute“ Finsternis - das bleibt also Zitat der Salzburger Geschichte - bei ihm heißt es nur: „Das Haus ist dunkel und still. Es ist halb drei Uhr am Morgen. Drei Seiten Regieanweisungen gibt es zu dieser Zeit der Stille, bevor der Dialog beginnt, das verrät den Drehbuchautor John Hopkins (u.a. James Bond 007 – Feuerball), der auch im weiteren Stück jedes Bild akribisch beschreibt. Er gibt sogar an, dass der hereinwankende Mann 1,83 m, 45 Jahre und „schwer gebaut“ ist. Ob diese Vorgaben bei dem grandiosen Darsteller Nicholas Ofczarek erfüllt werden, ist schwer zu beurteilen, ansonsten hat sich das Regie- und Ausstattungsteam erstaunlich exakt an die Anweisungen gehalten: als das schwache Licht in der Hausbar angeht, erkennen wir ein hoffnungslos mit Möbeln der sechziger Jahre vollgestopftes Wohnzimmer, voller Retro-Kitsch (Bühne Martin Zehetgruber, Lichteffekte Friedrich Rom). Durch die Spießer-Idylle der damaligen Jetzt-Zeit – das Stück kam 1968 zur Uraufführung - stolpert und wankt der betrunkene Polizist Johnny Johnson – zunächst nur als Silhouette zu erkennen. Möbel stürzen um und dann geht auch der schwere Körper des hilflosen Sergeanten zu Boden. „What shall I do with the drunken bobby“, brummt er vor sich hin. Dann kommt Maureen (Andrea Clausen), seine Frau im himmelblauen Morgenmantel mit rosa Lockenwicklern im Haar.

Der Kronleuchter geht an, der Kampf kann beginnen. Der Psycho-Krimi um den Absturz eines Bad Cops in drei Akten, in drei Bildern, in drei brillanten Dialogen. Im ersten Akt erfahren wir bruchstückhaft das Geschehen: Der Polizist kommt vom Verhör eines von ihm als Kinderschänder Verdächtigten, den er - möglicherweise - zu Tode prügelte. Der Akt lebt von der Sprachlosigkeit der Eheleute: er sucht, seine Tat, aber auch sein Leiden, seine Verletzungen, die schmerzenden Bilder seiner Demütigungen und Erniedrigungen vergeblich in Worte zu fassen. „Ich hab heute Nacht womöglich… ich mein, es kann sein … einen Mann umgebracht.“ Sie behauptet, ihm helfen zu wollen, rennt aber nur raus, um sich zu übergeben. „Scheißhaus, Scheißmöbel“, „du siehst beschissen aus!“ Er schüttelt sie, schlägt sie, hasst alles um sich herum. Das alles in minutiösem Realismus, so dass man als Zuschauer aufstöhnen möchte. Am Ende ist klar: der Verdächtige ist tot. Der Ermittler wurde zum Täter. Und er gibt es zu: er wollte töten.

Der zweite Akt spielt auf der Vorderbühne zwischen hohen weißen Wänden: das Verhörzimmer der Polizei, in dem jetzt Johnson von seinem Vorgesetzten (Roland Koch) zur Rede gestellt wird. Nur „eine erste Einschätzung“ soll es sein, „ohne Protokoll“. Man will die Sache klein halten, doch Johnson findet wieder keine Worte, entlarvt seine Schwächen, wird aggressiv und weinerlich, zum Psychopaten.

Der dritte Akt bringt die Rückblende auf die Tat. Der Verhörraum ist jetzt ramponiert, Fetzen hängen von den Wänden und der Ermordete tritt auf: blitzgescheit, hämisch überlegen entlarvt er die Motive seines Peinigers. Der faszinierende August Diehl als körperlich unterlegener Baxter führt den weinerlichen, gehässigen Polizisten in seiner Selbstüberschätzung und seinem Selbstmitleid gnadenlos vor. Johnsons geheime Sehnsucht nach eigenem Verbrechen, seine Gewaltbereitschaft und Anmaßung, seine sexuelle und berufliche Frustration, alles wird wie in einem bösartigen Psychospiel aufgedeckt. Ein Spiel, in dem Baxter alle Fäden zieht, wohlwissend, dass er am Ende körperlich zu unterliegen droht. In dem er aber zuvor den Gegner über das erträgliche Maß der Selbsterkenntnis hinauszwingt, ihn psychisch erledigt, auch wenn dieser es nicht in Worte fassen kann.

Es bleibt offen, sowohl in Hopkins Text als auch in Andrea Breths Inszenierung, ob Baxter der Kinderschänder ist. Nur Kostümbildnerin Moidele Bickel scheint ihn mit seinem zerfetzten, lehmverschmierten, blauen Anzug, seinen dreckigen Händen und Blutspuren am Knie denunzieren zu wollen. Hopkins schrieb in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen spannenden Psychothriller, der - auch wenn seine Kritiker ihn in die Vulgär- oder Küchenpsychologie einstuften – bis heute seine Brisanz behielt. Mag auch der Bad Cop in seiner Frustration durch Vater, Ehe und Karriere ein Klischee bedienen, so machen Breth und Ofczarek eine grandiose Figur daraus.