Machtmensch oder Unschuldslamm?
Jeschua Ha-Nozri: das ist Jesus. Seine letzten Tage vor dem Tod am Kreuz werden von dem russischen Autor Michael Bulgakow in dessen Satire-Roman Der Meister und Margarita in einer Nebenhandlung geschildert – mit dem Fokus auf den von Zweifeln und Intrigen, politischen Schachzügen und schaurigen Wahnvorstellungen geplagten, zwiespältig agierenden Römer Pontius Pilatus. Goethe-Fan Bulgakow, noch heute in Russland hoch verehrt, schiebt Originalnamen ebenso in sein Drama ein wie dialektische Diskussionen über Moral, Ehre, Wahrheit und Wirklichkeit. Jens Dornheim, Gründer des freien Theaters „glassbooth“ sowie Vorsitzender des „Theaters im Depot“ in Dortmund, gelang nach seiner Luther-Adaption (2015) ein zweiter Wurf: Denn gearbeitet wird hauptsächlich mit talentierten und ambitionierten Laien aus der Region. Wobei er mit Dominik Hertrich in der Titelrolle einen intensiv gestaltenden und sprechenden Schauspielprofi verpflichten konnte.
Großes Theater mit einem sinfonisch untermalten Bibel-Finale vereint Dornheim zu einer Multimedia-Mixtur aus live-Theater, Musik, Film, eingespielten Videos, Rezitation, Chorfragmenten und „antiker“ Bühne mit entsprechender Kostümierung der Akteure. Erstaunlich, was der junge Regisseur mit geringem Budget auf die Beine stellte. Denn abgesehen vom Glücksfall D. Hertrich, der als Pilatus die Zerrissenheit eines Charakters darstellen darf und kann, dokumentieren auch alle anderen Ensemblemitglieder bemerkenswerte schauspielerische Kenntnisse. So der Jesus/Jeschua von Alexander Kupsch, der jeder Falle bei den Klischees dieser Person aus dem Weg geht, der Hohepriester Kaiphas alias Frieder Kornfeld, der soldatische Afranius des Timo Knop, der Judas von Thomas Kinner, der Erzähler von Hans-Peter Bause oder die Nisa der Julie Dioum u.a.
Bulgakow, dessen Roman mit Goethes Faust in Teilen und Typen verglichen wird, schafft es, eine besondere Atmosphäre auf die (Lese-) Bühne zu bringen: Pontius Pilatus ist sowohl ein aalglatter Polit-Profi wie ein mitleidend sensibler Zeitgenosse, ein knallharter Machthaber und ein intriganter Strippenzieher. Zum Schluss treibt ihn das Urteil und dessen Vollstreckung in den Wahnsinn…
Die dramatische Substanz schält Regisseur und Bearbeiter Dornheim ebenso heraus wie die zugespitzte Lektion über moralische Fragen des obersten Richters in Jerusalem (das hier hebräisch „Jerschalaim“ heißt), der das Volk nicht verstehen kann, dass man sich gegen den Gottessohn und für Barnabas beim Urteilserlass entscheidet. Wie weit hat er sich der Entscheidung entzogen, wie hat er sich zur Verurteilung bekannt, wie hat er sich mit dem Geheimdienstchef arrangiert, wie konnte er sich für den Mord an Judas aussprechen – Fragen, die im gespaltenen, „diplomatischen“ Charakter dieser „heroischen“ Figur begründet sind.
Zweimal war die Uraufführung in der Gladbecker Kulturkirche ausverkauft. Die Theaterbedingungen dort sind zwar nicht optimal, aber Dornheim mutet dem Raum und der Technik einiges mutig und risikoreich zu.
Das Publikum feierte alle Mitwirkenden frenetisch. Im Luther-Jahr konnte auch diese beachtliche Produktion für das Luther-Forum und für „glassbooth“ (der Name beruft sich auf das erste Projekt The man in the glass booth von Robert Shaw, 2004) bestens Werbung betreiben: als Theaterlabor und Kreativquartier mit vielseitigen Konzeptionsansätzen.