Am Ende siegt immer das Böse
„Nach Shakespeare von Heiner Müller“ – als der große Wanderer zwischen zwei politischen Welten Heiner Müller sich Anfang der 70er Jahre an Shakespeares Macbeth macht, wird aus der anfangs beabsichtigten reinen Modernisierung der Textfassung schnell eine Neudeutung. Die wohl weitgehend als Zugeständnis an den damaligen, die übersinnlichen und okkulten Szenen liebenden König James I. herrschende Dominanz der Hexen wird zurückgedrängt, das Seelendrama um den plötzlich an Gewissensbissen leidenden Macbeth und seine in den Wahnsinn gleitende Lady ebenfalls. Stattdessen führt der im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat noch umstrittene Müller eine mitleidlos unterdrückte Volksgemeinschaft von Bauern und Soldaten ein. Macbeth selbst wird reduziert auf einen machtbesessenen Tyrannen und brutalen Mörder, der bald mit seinen Co-Machthabern im Streit liegt; Politik wird dem Kampf um die persönliche Machterhaltung untergeordnet. Müllers Sprache, so lakonisch sie bisweilen auch sein mag, wirkt härter als bei Shakespeare, das blutrünstige Stück noch brutaler. Shakespeares Poesie ist dem Text weitgehend ausgetrieben. Müller meinte das alles sehr exemplarisch: „Mein Tod wird euch die Welt nicht besser machen“, prognostiziert sein Macbeth im Angesicht des nahenden Endes. Und so kann Johannes Thorbecke vom Theater Gegendruck denn mit Fug und Recht behaupten, dass man bei der Inszenierung von Müllers „Macbeth“ auch „die Bilder von Aleppo, Bagdad, Kabul …vor Augen“ habe, ebenso wie die Bilder von aufkeimendem Rassismus in unserem eigenen Land. Das Exemplarische zu suchen, heißt aber gleichzeitig, nicht auf platte Aktualität zu setzen. Konkrete Hinweise auf aktuelle politische Konstellationen fehlen in Müllers Textbearbeitung ebenso wie in Thorbeckes Inszenierung. Aber beide stellen eine Aufforderung zum Weiterdenken dar. König Duncans Diagnose aus dem Jahre 1040, in dem das Drama ursprünglich spielt, gilt noch immer: Mit Blut geleimt ist der staubige Erdball.
Johannes Thorbecke, Regisseur und Leiter des kleinen freien Theaters aus Recklinghausen, das im Jahre 1995 aus einer Song- und Straßentheater-Gruppe hervorging und sich vor allem politischen Texten und Interpretationen verpflichtet fühlt, hat den Macbeth noch weiter eingekürzt. Weniger als zwei Stunden dauert die Aufführung, die im Oktober 2016 auf der Hinterbühne des Ruhrfestspielhauses herauskam und nun in den winzigen Theaterraum im Atelierhaus in Recklinghausen-Süd umzog. Thorbecke hat eine weitere Idee von Heiner Müller übernommen: die Mehrfachbesetzung der Titelfigur. Auch dieses Besetzungskonzept macht deutlich, dass Thorbecke wie Müller den Polit-Krimi Macbeth nicht als individuellen Einzelfall erzählen, sondern auf die Ebene des Exemplarischen heben wollen, mit der man auch heutige Konflikte erläutern kann. Müller besetzte in seiner eigenen Inszenierung des Stücks an der Volksbühne (Ost-)Berlin im Jahre 1982 die Titelfigur gleich dreifach – und das höchst prominent: Dieter Montag, Michael Gwisdek und Hermann Beyer teilten sich die Rolle. Ganz solchen Glanz versprüht das Theater Gegendruck nicht. Dimitrij Schewalje gibt den aufstrebenden, zwar ehrgeizigen, aber noch unsicheren Macbeth des ersten Teils – dass diese Rolle mit einem deutlich migrantisch geprägten Schauspieler besetzt ist, mag als Hinweis auf die aktuelle gesellschaftliche Situation dieser Bevölkerungsgruppe interpretiert werden, die um ihren Erfolg fraglos mehr kämpfen muss als das alteingesessene Bürgertum. Mit Philip Stöteknuel übernimmt im zweiten Teil ein junger, unauffälliger, bestens integriert scheinender Schauspieler die Rolle, ein Bürokrat der Macht, ein Mensch wie Du und Ich – allerdings ein überraschend emotionsloser: Den Tod seiner Lady nimmt er achselzuckend zur Kenntnis, und wenn der Wald von Birnam auf sein Schloss zuzuwandern scheint und sich die Prophezeiungen der Hexen auf unvermutete Art und Weise erfüllen, bleibt er gelassen – von Angst und Irrsinn keine Spur, höchstens von Stolz und Verblendung – und zumindest zu Beginn von Kampfeslust. Er zieht in den Krieg mit einer Hybris und einer Dummheit, die allenfalls von einem hypothetischen amerikanischen Präsidenten übertroffen werden könnte, der den weltweiten Atomkonflikt anheizt.
Vor allem nonverbal vermögen viele Szenen von Thorbeckes Inszenierung zu überzeugen: Wenn Macbeth vor dem Mord an Duncan einen Pakt mit der Wache zu schließen versucht, ist das spannend: Heimtücke und Korruption mögen heute noch einen Bund miteinander eingehen. Humorvoll und voller Ironie werden der Stolz und die Freude von Lady Macbeth und Macbeth bei ihrer Krönungszeremonie dargestellt. Überhaupt ist die Lady Macbeth eine Quelle stiller Heiterkeit: Sie wird von dem großgewachsenen Max Amareller verkörpert, der seinen Gatten Dimitrij Schewalje um mindestens einen Kopf überragt. Die Lady ist bei Amareller eine schottische Landpommeranze, eine verschlagene intrigante Einflüsterin mit einem Blick zwischen Traum und Irrsinn und einem gelegentlichen subtilen Zynismus in der Sprache und der Intonation. Schauspielerisch ist Amareller das Highlight in einem Ensemble, das gelegentlich durch die Enge der körperbetontem, temperamentvollem Spiel keinen Raum gebenden Bühne an der Entfaltung gehindert wird.
Der zweite Teil der Aufführung, der sich nach dem Besetzungswechsel in der Rolle des Macbeth deutlich vom ersten abhebt, ist der intensivere, spannendere. Auch der Soundtrack und die großartige Musik der Berliner Gruppe von Mo et Moi kommen jetzt besser zur Entfaltung. Geräusche entwickeln sich von Kinderspielen zu Kriegsreportagen, Chöre kontrastieren das Kriegsgeschehen, und Stöteknuel, der im ersten Teil als schlaffer Softie Banquo wenig Charisma entwickeln konnte, macht seinen Macbeth mit variablem Spiel zu einem spannenden, oftmals im Hinblick auf die Rezeptionsgewohnheiten des Zuschauers überraschenden Charakter. Jetzt evoziert die – teilweise vorproduziert aus Lautsprechern klingende – Sprache düstere, drohende Bilder im Kopf des Zuschauers.
Relativ unspektakulär geht der Machtwechsel vom besiegten (und toten) Macbeth auf Duncans Sohn Malcolm vonstatten. Fast würden wir verpassen, wie der bei Shakespeare doch als Hoffnungsträger für mehr Humanität gefeierte Malcolm seinem Vorgänger mal eben den Kopf abschlägt: „Der Kopf gehört der Krone!“: Das ist Heiner Müller, sein Geschichtspessimismus und sein Rückblick auf tausend Jahre Grausamkeit. Das „Heil Malcolm“ verstand Shakespeare noch nicht als Anspielung auf ein Tausendjähriges Reich, uns aber lässt es jedes Mal zusammenzucken. Und dann taucht die Königspuppe wieder auf - bei den Hexen, die jetzt einen wilden Tanz veranstalten – die Königspuppe, die wir schon zu Beginn vor der Krönung von Macbeth gesehen hatten. In der Chronik von Holinshead hat Müller die Szene gefunden, bei der eine Duncan-Puppe verbrannt wird – Shakespeare konnte diese Szene aus politischen Gründen nicht verwenden. Duncan, Macbeth, Malcolm – sie alle werden irgendwann verbrannt – und in der Hölle schmoren. Am Ende siegt immer das Böse.