Kunta Kinte im Westfalenstadion
Echte Liebe: Das ist der schwarz-gelbe Slogan des knallhart kalkulierenden Wirtschaftsunternehmens Borussia Dortmund, das sich geschickt als Gegenentwurf zu den angeblichen „Plastikclubs“ aus Wolfsburg, Hoffenheim oder Leipzig inszeniert. „Echte Liebe“ ist so etwas wie „Heute ein König“ oder „Wir machen den Weg frei“. Der Slogan steht für Marken-Identität – und er ist ein Mission Statement. Wie: „Er läuft und läuft“. Hoffentlich findet er die richtigen Laufwege, der BVB-Spieler. Hoffentlich läuft er in die richtige Richtung.
Auch der Autor dieser Zeilen ist BVB-Fan. Auf der Südtribüne, im berüchtigten Block 13 wurde er vor fast 45 Jahren infiziert mit dem Fußball-Virus und lernte, „echte Liebe“ zu empfinden. Nicht alle Fans, die in Block 13 standen, liefen immer in die richtige Richtung. Die Gewalt gegen zum Teil noch minderjährige Fans von RB Leipzig vor ein paar Wochen machte es wieder einmal deutlich: Echte Liebe kann zu fundamentalistischem Terror werden. Sie kann rechts- oder (in Einzelfällen) auch linksradikal werden. „Burnout-Ralle, häng Dich auf!“ – das empörende Spruchband gegen Ralf Rangnick, den vor einigen Jahren wegen eines Erschöpfungssyndroms zu einer vorübergehenden Fußball-Pause gezwungenen heutigen Leipziger Sportdirektor, einen der kompetentesten und umsichtigsten Sportmanager der Liga, wird gleich zu Beginn der Aufführung zitiert. Jörg Menke-Peitzmeyer, Fußball-Fan und Theater-Autor, feiert den Fußball in seinem in Kooperation mit der BVB-Stiftung „leuchte auf“ entstandenen Jugendstück „Strafraumszenen“, aber er beleuchtet auch die negativen Auswüchse. Sogenannte Rechtsradikalität, die oft nur aus dem Bedürfnis nach Provokation und Krawall entsteht, sich dann verselbständigt und ihre Krakenarme bis in die Kommunalpolitik ausbreitet, kennt man in Dortmund. Pyrotechnik und Gewalt auch: Kurze Videoschnipsel zeigen erschreckende Bilder von bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Stadion mit gewaltigen Polizeieinsätzen. Der normale Stadionbesucher weiß, dass er nur selten von diesen Begleiterscheinungen behelligt wird. Menke-Peitmeyer setzt sie durchaus in ein angemessenes Verhältnis zu den schönen, manchmal sogar witzigen Seiten des Fußballs. Diese überwiegen in Andreas Gruhns Inszenierung, aber man schaut auch auf die schwarzen (und braunen) Stellen hinter den gelben Sonnenstrahlen im Westfalenstadion.
Der Platz leuchtet im Flutlicht der kleinen Bühne des Theaters an der Sckellstraße, Wir blicken auf die Gelbe Wand, den Sehnsuchtsort von Fußball-Fans und -Spielern aus der ganzen Welt. Das Elf, das sind heute Abend fünf: Fünf Spieler reden und spielen. Sie sind Publikum und Rechtsradikale, Fußballer und Fußballweise. Sie singen „You shall never walk alone“ - schaurig schief. Wir wissen: Wenn 20 000 Fans schaurig schief singen, können auch die Drei Tenöre diese Harmonie nicht toppen. Johanna Weißert schwärmt von Lothar Hubers 3:2 in der vorletzten Minute. Das war 1976: im Aufstiegsspiel gegen den 1. FC Nürnberg. Der Autor dieser Zeilen war dabei – und niemand, der dabei war, ist so geschichtsvergessen, dass er sich nicht erinnert. In anderer Hinsicht war die Geschichtsvergessenheit schon damals erschreckend: „Belfast, Belfast – wenn der Adolf mit den Schalkern durch die Gaskammer rast“ – schallte es einmal durchs Stadion. Das traf den Fan mit der echten Liebe wie ein Stich ins Herz. Borussia Dortmund hatte Probleme mit der rechten Borussen-Front. Heute gibt es so etwas wieder – in einer verarmenden Stadt, in der die Rechten erschreckend viel Zuspruch erhalten. Unter die fröhlichen Gesänge der Fünferbande auf der Bühne mischt sich ganz unauffällig: „Von Gelsenkirchen bis nach Auschwitz – eine U-Bahn bauen wir …“ – Was für furchtbare Traditionen leben da wieder auf! Das Fan-Projekt des BVB fährt inzwischen mit jugendlichen Fanclub-Mitgliedern zum KZ Auschwitz. Auch solche erzieherischen Bildungsmaßnahmen gehören heute zu den Aktivitäten eines Fußball-Clubs.
Auf der Bühne steht Kunta Kinte. Jubril Sulaimon, als Gast vom Theater Krefeld Mönchengladbach engagiert, wird in den nächsten 90 Minuten zur Identifikationsfigur. Er trägt den Namen der Hauptperson aus Alex Haleys Einwanderer-Roman Roots. Heute ist er ist der klassische Vertreter aller Schwarzen im Fußball. Zunächst einmal fungiert er als Dolmetscher für die ausländischen BVB-Stars. Ein Einwanderer, der es trotz im Bürgerkrieg zerschossenen Beins geschafft hat: wegen des Fußballs, aber ohne selbst Fußball zu spielen. In allen Rollen, die Sulaimon an diesem Abend spielt, ist er der Mann, der Mut macht, der ausgleichend wirkt und über ein angenehmes Maß an Selbstironie verfügt. Er verkörpert das, was die Mehrheit der Fans auf der Tribüne an jedem Samstag empfindet: „Ob du aus Syrien oder aus Afghanistan kommst, ist egal: Du bist einfach nur Borusse.“ Sulaimon deutet auf die in Schwarz gekleideten Hooligans und grinst: „Ihr seid Neger?“
Stadtbekannte Dortmunder Neonazis, u. a. eine frühere Leitfigur der Borussen-Front, tauchen auf – teils sind sie zu pennerhaften Alt-Nazis verkommen, teils spielen sie sich als forsche Jung-Manager auf. Die Figuren sind zur Kenntlichkeit verfremdet – in Dortmund weiß man, von wem die Rede ist. Die Aufführung nimmt Stellung, aber sie versucht auch zu differenzieren: Von der „Parallelwelt Ultras“ ist die Rede, von den Fans, die „auch schon mal in den Religionskrieg“ ziehen. Doch es wird auch klargestellt: Nicht alle Ultras sind Verbrecher. Die meisten leben für ihren Verein. Und: Die Ultras sind „die größte Jugend-Bewegung in Deutschland“. Wenn etwas schiefgeht, wird schnell die „schwere Jugend“ als entlastender Faktor angeführt – das, so meinen die „Spieler“, kann nicht die Entschuldigung für alle Entgleisungen sein. - Doch Menke-Peitzmeyer schaut nicht nur auf die schwere Jugend der Hooligans, sondern auch auf die Lebensbedingungen der wichtigsten Akteure der Branche: derer, für die immer noch die weise Erkenntnis des ehemaligen Dortmunder Spielers und Oberhausener Meister-Trainers Adi Preißler gilt: „Grau ist alle Theorie – aber entscheidend is aufm Platz.“ Der Autor ironisiert das Star-Gehabe der Spieler - und das beginnt schon mit dem Einzug der Gladiatoren in die Sckellstraßen-Arena. Wie eine Horde von Aliens wirkt die Fünfer-Bande mit ihren Sixpacks und den Irokesen-Bürsten auf dem kahlrasierten Schädel. Natürlich kommt auch Pierre-Émerick Aubameyangs legendärer weißer Pelzmantel kurz ins Bild.
Apropos Bild: Die Meldung aus der Zeitung mit den großen Lettern über die Luxus-Villa in Unna-Billmerich lässt sich ebenfalls auf der Videowand der Dortmunder Bühne nachlesen: 600 Quadratmeter mit 7 Schlafräumen und 5 Badezimmern, Fitnessraum, Sauna und Zugang zur Pferdekoppel bewohnte der BVB-Star dort, der in der Aufführung nur Carlo heißt, aber schnell als Ciro Immobile identifiziert ist. Philip Pelzer gibt den armen „Nullbock-Italiener“, der sich wie sein reales Vorbild darüber beklagt, dass keiner der Mannschaftskameraden ihn je zum Abendessen eingeladen hat – ein weinerlicher Typ, der mit der deutschen Mentalität fremdelt und (zumindest in dieser Aufführung) erst später, als er längst wieder nach Südeuropa gewechselt ist, in einem Spiel auf einen ehemaligen, dem geerdeten Kevin Großkreutz nachempfundenen Mannschaftskameraden trifft, der den Verein ebenfalls verlassen hat. In einem Gespräch während des Spiels beginnt er endlich zu verstehen.
Die Geschichte des Ciro Immobile ist eine der etwas ausführlicher erzählten Episoden in dieser Collage aus kleinen, nur lose zusammenhängenden Szenen, die einzig ihr Bezug zum Fußball eint und die doch einen vielseitigen Blick auf die verschiedene Facetten dieses Sports wirft. Die antisemitische Beleidigung der Mutter eines anderen ehemaligen BVB-Spielers ist eine weitere solche Geschichte, und geradezu besinnlich wird es, wenn ein türkischstämmiger Spieler in der Ruhrpott-Siedlung, in der er aufgewachsen ist, seine Heimatgefühle thematisiert. Die Figur scheint der Biografie von Mesut Özil nachempfunden zu sein, aber selbstverständlich wird ein ehemaliger Schalker in Dortmund mehr verfremdet als die Helden des eigenen Vereins. Immer wieder betont der Spieler, unpolitisch zu sein, doch steckt schon Thorsten Schmidts Anfangs-Monolog voller versteckter politischer Statements, und als die Unruhen im Istanbuler Gezi-Park ausbrechen, verlässt er fast die selbst auferlegte politische Neutralität. Es drängt etwas aus ihm heraus, doch der Spieler, der permanent in der Öffentlichkeit steht – und erst recht derjenige, der zwei verschiedenen Kulturen gerecht werden will -, ist nicht frei. Er hockt verängstigt auf seinem Sack voll Geld und steckt den Kopf in den Sand.
Ästhetisch folgt die unterhaltsame, aber bemerkenswert vielseitige Aufführung der Dramaturgie eines Fußballspiels. Sie beginnt mit einer Viertelstunde rasantem Klopp’schen Powerplay und geht dann mit druckvoller, aber kontrollierter Offensive weiter. Das blitzschnelle Umschaltspiel zwischen den verschiedenen Mannschaftsteilen bewältigen die Akteure inklusive Kostümwechsel im Akkord. Özil beruhigt zwischendurch einmal das Spiel und bringt eine intellektuellere Note ein, bevor am Ende eine etwas verquaste Spielanalyse im Stile eines kommunistischen Manifests zu dem Schluss kommt, wir würden besser alle selbst mehr Sport treiben. Und dann: singen alle noch einmal „You shall never walk alone“. Alle: die Elf, die nur Fünf sind, und die Zuschauer, die sich von ihren Plätzen erheben. Der Rezensent zögerte einen Moment – und beschloss dann, die gebotene Zurückhaltung des Kritikers aufzugeben. Er erhob sich – und haderte mit sich selbst, weil er seinen BVB-Schal zu Hause gelassen hatte.