Ein Abend in Ricks Café
Eine Premiere montags? Das ist ungewöhnlich. Montags lädt das Junge Schauspiel Düsseldorf seit geraumer Zeit Geflüchtete und Ur-Düsseldorfer, deutsche und ausländische Neubürger ins Café Eden ein. Im Foyer wird musiziert und gekocht, werden Geschichten erzählt und Hilfestellungen im Umgang mit Behörden gegeben, wird gequatscht und gegessen - in ungezwungener Atmosphäre und multikultureller Umgebung. Als die Premierengäste an diesem Montag eintreffen, spielt ein älterer Herr versonnen auf der Gitarre, ein paar bekopftuchte Damen rühren sichtbar entspannt in ihrem Kaffee, ein paar junge Männer spielen Kicker. Nicht alle von ihnen werden wir später in der Premiere wiedersehen, aber ungewöhnlich viele von ihnen drängen sich am Einlass.
Wäre das Bühnenbild eine schöne Frau, würde man ihm bewundernd hinterherpfeifen. Irgendwie ist das Café Casablanca eine Fortsetzung des Café Eden im Foyer – mit Bistrostühlen, einer Bar und einem kleinen Podest für die Musiker. Nur wirkt alles viel nostalgischer. Denn es soll erinnern an „Rick’s Café Américaine“ aus dem im Jahre 1942 gedrehten legendären Melodram Casablanca – Sie wissen schon: „Schau mir in die Augen, Kleines!“. Manchmal sehen wir Szenen aus diesem Film auf einem muschelförmigen Videoscreen im Hintergrund, und manchmal werden diese vorn von exakt den historischen Filmfiguren nachempfundenen migrantischen Schauspielern nachgespielt. Regisseur von Casablanca war übrigens der nicht minder legendäre Manó Kertész Kaminer. Den kennen Sie nicht? Ach so, ja, natürlich: In Hollywood drehte der in Budapest geborene jüdische Immigrant unter dem Namen Michael Curtiz.
Damit sind wir auch schon bei der zweiten von vielen Ebenen einer Inszenierung, die von einer der renommiertesten Kompanien der freien Theaterszene für das arrivierte Düsseldorfer Schauspielhaus erarbeitet wurde. Die erste Ebene, die die andcompany eingezogen hat, ist der Plot des Films Casablanca. Die zweite ist die Migrationsgeschichte vieler seiner Schauspieler und seines Regisseurs. Viele Schauspieler waren vor den Nationalsozialisten geflohen, sprachen eher schlechtes Englisch und mussten daher in Hollywood meist Nazis spielen. Casablanca war ein Anti-Nazi-Film, der die US-Amerikaner von der Notwendigkeit eines Kriegseintritts überzeugen sollte. Nazis sangen von Schwertgeklirr und Wogenprall („Es braust ein Ruf wie Donnerhall“), und die zahllosen Franzosen, Deutschen, Ungarn, Polen und Österreicher hielten mit der Marseillaise dagegen. Die blutrünstige, kriegsverherrlichende französische Nationalhymne wurde zur antifaschistischen Freiheitsfanfare. Als die deutsche Fassung des Films im Jahre 1952 in die Kinos kam, war sie 25 Minuten kürzer als das Original. Die Deutschen sahen nichts als einen Liebesfilm. Antinationalsozialistische Propaganda glaubte man ihnen sieben Jahre nach dem Krieg noch nicht zumuten zu können. Die hatten ja alle nichts gewusst …
Und so kommen wir denn zur dritten und vierten Ebene des Theaterabends: Reverse Migration. Die gegenwärtigen Fluchtrouten aus Nordafrika sind nicht neu. Sie wurden schon im 2. Weltkrieg begangen – allerdings in umgekehrter Richtung. Europäer flüchteten vor Krieg und Verfolgung nach Algerien oder in das damalige Französisch-Marokko und warteten dort monate- oder jahrelang auf ein Transit-Visum für die Reise in die USA oder in das neutrale Portugal. In „Casablanca“ schlagen sie in Rick Blaines Café die Zeit tot. Zwielichtige Gestalten lungern dort herum, darunter Nazi-Schergen wie der deutsche Major Strasser oder der vom Vichy-Regime eingesetzte französische Polizeichef. Visa gibt es nur gegen hohe Bestechungsgelder oder Sex. Nicht anders als bei den Flüchtlingsszenarien von heute gibt es Nepper, Schlepper und Fluchthelfer, gibt es Gute und Böse – vor allem Böse, die man braucht und die gegen obszön hohes Honorar Gutes zu tun bereit sind. – In der andcompany-Inszenierung haben sieben der elf Schauspieler(innen), die sich 31 Rollen teilen, eine Migrationsgeschichte. Manche leben bereits lange in Düsseldorf, manche sind erst in jüngster Zeit als Flüchtlinge zu uns gekommen. Everybody wants to stay, wie es im Titel dieser Stückwicklung heißt. Das ist anders als im Casablanca des Jahres 1942, aber der Film beruhte auf einem niemals aufgeführten Theaterstück mit dem Titel Everybody Comes To Rick’s. Insofern hat schon der Titel dieses Theaterabends mehrere Bedeutungsebenen.
„They came here as stars“, sagt Julia Dillmann, die Ingrid Bergman spielt, die Ilsa Lund spielt. Das gilt für viele der geflüchteten Filmstars, die sich in neuer Sprache und neuem Land mit Nebenrollen begnügen mussten, aber das gilt in noch stärkerem Maße für die migrantischen Schauspieler, die allesamt auf künstlerische Biographien in ihren Heimatländern zurückblicken. Haik Hakopian, der groß gewachsene, weißhaarige Pianist, der uns mit sehnsuchtsvollen Melodien verzaubert, ist im Jahre 1979 vor den Ayatollahs aus Teheran geflohen und hat als Musiker in Las Vegas, in Griechenland und in der Schweiz gearbeitet. Mit ein wenig Glück können Sie ihn in der Halle des Düsseldorfer Flughafens am Klavier erleben – manchmal auch mit Melodien aus „Casablanca“. Wenn er spielt, breiten sich Wehmut und Wohlgefühl unter den Zuschauern im Jungen Schauspiel aus. Mitra Zarif-Kavjan stammt ebenfalls aus Teheran und ist im Jahre 1986 nach Deutschland gekommen. Die charismatische Frau ist Malerin, Sängerin und Märchenerzählerin; sie schreibt Gedichte und Erzählungen und illustriert Kinderbücher. Sie verfügt über eine ungeheure Bühnen-Präsenz, und wenn sie singt, stellen wir hochkonzentriert unsere Lauscher auf, um nur ja keinen Ton zu verpassen. Der junge Orhan Alallo, der in Damaskus Theaterwissenschaft studiert hat und seit 2014 in Deutschland lebt, bezeichnet sich schmunzelnd als den wohl größten Brecht-Kenner im Raum: Das alte Scheusal Bertolt B. war sein Forschungsprojekt während des Studiums in Syrien. Der syrische Sänger und Musiker Khater Dawa, der sich mit Alexander Steindorf u. a. die Rolle des Rick teilt, ist einer der am häufigsten geforderten Akteure in dieser Inszenierung. Steindorf und Dawa sind hervorragende Schauspieler, die gewisse Ähnlichkeiten miteinander, aber keine mit dem Humphrey Bogart der Vorlage aufweisen. Als die Emigranten aus „Casablanca“ im Film die Marseillaise anstimmen als Lied gegen die Nazis, singen Khater Dawa und Mitra Zarif-Kavjan im Duett das arabische Lied vom „Mädchen mit den Mandelaugen“ – so fließen die historische und die aktuelle Flüchtlingsgeschichte perfekt ineinander.
Wer die andcompany kennt, weiß natürlich, dass es nicht um die lineare Nacherzählung irgendeines Plots geht. Die filmische Vorlage ist nur der Anlass für eine intelligente assoziative Collage, die zwischen den vier beschriebenen Ebenen munter hin- und herspringt. So wird die Inszenierung gleichzeitig zu einer Hommage an den Film und zu einem politischen Lehrstück – und damit entspricht sie dann doch wieder hundertprozentig dem (ungekürzten) cineastischen Meisterwerk. Historische Gestalten aus Kunst und Literatur treten auf oder werden zitiert: der Filmemacher Fritz Lang, zu dessen „Hangmen Also Die“ die Schauspieler auf Hitler-Karikaturen schießen; der Philosoph Walter Benjamin, der als Matrose, sowie der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der als Weinbauer verkleidet flüchtete; der politisch engagierte Komponist Hans Eisler, den Haik Hakopian großartig interpretiert, und viele andere mehr. Die wunderbare syrische Kulturwissenschaftlerin Luna Ali zitiert Texte von Hannah Arendt; Mitra Zarif-Kavyan gibt Irmgard Keun und Bertolt Brecht.
Die Aufführung hat Schmelz und Melancholie – und sie hat politischen Biss. Dieser gemeinsame Abend der Düsseldorfer Bürgerbühne und des Jungen Schauspiels ist ein Projekt für alle Altersgruppen und für alle Bevölkerungsschichten. Er ist ein Muss für die älteren Herrschaften, die Casablanca lieben – denn natürlich ist er auch eine Hommage an den Film. Er streichelt die Seele derjenigen, die Melancholie und Wehmut auch dann genießen können, wenn sie durch einen kritischen Blick und Reflexion gebrochen oder angereichert werden. Er ist spannend für die Freunde des politischen Theaters. Er klärt auf über historische Zusammenhänge und Wahrheiten. Vor allem aber ist er das perfekteste Integrationsprojekt, das der Unterzeichner jemals erlebt hat. Neu angekommene Flüchtlinge, langjährige Immigranten und Einheimische aus allen Bevölkerungsschichten feierten im Anschluss an die Premiere in einer ungewöhnlich gelösten Stimmung miteinander, denn alle spürten, dass an diesem Abend etwas Exzeptionelles gelungen war – nicht nur in künstlerischer Hinsicht.
Als Tüpfelchen auf dem i hatten zwei aktuelle Flüchtlinge tagelang in der privaten Küche einer Theatermitarbeiterin gebrutzelt, um zur Premierenfeier ein reichhaltiges und schmackhaftes syrisches Buffet zu servieren. Mohammed ist Koch, und in Syrien hatte er ein Hotel geführt – dort wären wir willkommen gewesen und hätten uns in friedlicheren Zeiten sicher wohlgefühlt. Jetzt heißt es in Düsseldorf: Refugees are welcome! Selten wurde das so gelebt wie an diesem Abend, an dem sich alle in die Augen schauten und wussten: „Wir schaffen das schon!“