Ein Requiem für eine Leiche, die nicht tot zu kriegen ist
Die Bühne, ein großes schwarzes Loch. An der Rampe beginnt ein älterer Herr im gepflegten blauen Anzug mit einem Prolog: „Um ehrlich zu sein, ich habe nie viel von Kriminalromanen gehalten,“ doziert er gestenreich den Zuschauern, die gekommen sind, um die Adaption eines Kriminalromans zu sehen, sowie seinem zunächst schweigsamen Gegenüber, einem Kriminalschriftsteller, dem Ich-Erzähler der Rahmenhandlung (möglicherweise ein Alter-Ego des Autors). Er begründet seine Schelte: das Genre des Krimis baue eine Welt, in der Kausalität und Logik zum Ziel führe, das aber sei Lüge, da die Abläufe in Wirklichkeit irrational und unkausal seien. Er stellt sich als Dr. H., ehemaliger Kommandant der Kantonspolizei Zürich vor (präsent, leicht grotesk: Thomas Wittmann) und bietet dem Krimi-Autor an, ihn im Auto mitzunehmen. Die Fahrt führt geradewegs in die eigentliche Handlung der Geschichte, die vor Jahren geschah.
Genial, irritierend und faszinierend erschaffen jetzt Regisseur Tilman Köhler und Bühnenbildner Karoly Risz eine Welt des Unlogischen und Irrealen, des Undurchschaubaren und Trügerischen: Ein Riesenspiegel neigt sich über die gesamte Bühne und simuliert eine senkrechte Rückwand, auf der sich die folgende Handlung doppelt, paradox verfremdet und zur Schein-Wirklichkeit, zur irritierenden und oft humorigen Fiktion wird. Unglaublich, wie das funktioniert! Die Menschen kriechen scheinbar an der Wand hoch, laufen waagerecht im Raum; ein von der Polizei verdächtigt und gequälter unschuldig Einsitzender erhängt sich an der Zellenwand: alles Täuschung, Schwindel, Lüge. Eine fantastische Bebilderung der These, dass diese Welt nicht berechenbar ist (und deshalb auch der Kriminalroman es nicht sein sollte). Dazu live leise Zittertöne (Hesen Kanjo) und zuerst nur wispernd, dann immer deutlicher die Stimme des langsam verblödenden Kommissars Dr. Matthäi (Florian Lange): „Ich warte. Ich warte.“ - „Er wird kommen. Er wird kommen.“ Unbeirrbar bis in den Wahnsinn hält er fest am Glauben notwendiger Kausalität und Logik in seinen Ermittlungen.
Die Spielhandlung blendet zurück, fünf Darsteller erspielen in intelligent wechselnden Rollen das „Versprechen“ des Kommissars an die Mutter des ermordeten Kindes, der kleinen Gritli Moser, den Täter zu fassen – bei seiner Seligkeit verspricht er es, verzichtet in der Konsequenz auf den Polizeidienst und die sich bietende internationale Karriere, ermittelt auf eigene Faust und stößt auf eine Kinderzeichnung der Ermordeten. Wiederum ein rasanter Einsatz des Spiegeleffekts: Die Spieler zeichnen das Bild mit Kreide auf den Bühnenboden, interpretieren und entschlüsseln es tiefenpsychologisch, während es für den Zuschauer riesig auf die Rückwand reflektiert wird: Der Igelriese, dem aus der Tasche die Trüffel als Schoko-Igel, mit denen er das Kind lockte, herauspurzeln, daneben – ganz klein - das Mädchen im roten Kleid. Der Wald entsteht mit kindlichen Strichbäumen, dazwischen fliegen polternd Holzscheite auf die Bühne, die durch die Spiegelung wie gefährliche Geschosse erscheinen. Märchenhaftes, Illusorisches, Gespenstiges, Bedrohliches, Reales und Fiktives mischen sich zu einem ergreifenden Szenarium. Und dann kommt der nächste Clou: Eine kindsgroße Puppe erscheint als Gritli. In rotem Kleidchen hebt sie sich ab vom Schwarz der Bühne und der anderen Kostüme. Ein bewegliches, realistisches Abbild des Opfers, meisterlich geführt und gesprochen von der jungen Schauspielerin Johanna Kolberg, die mit dieser Arbeit zugleich ihre Examensarbeit in „Zeitgenössischer Puppenspielkunst“ an der Hochschule Ernst-Busch in Berlin abliefert. Grandios das Zusammenspiel der Medien!
Unterdessen sitzt der Ex-Kommissar an seiner Tankstelle, stiert vor sich hin, wartet, wartet sinnlos, endlos, verblödet, schon von weitem nach Schnaps, Absinth stinkend. „Er muss kommen!“ beharrt er. Ein Fischerjunge bringt ihn auf die Idee, einen Köder einzusetzen: ein Mädchen mit rotem Kleidchen. Wiederum die Puppe. Und sein Plan scheint zu funktionieren, alles spricht dafür. Aber kein Mord geschieht. Unterdessen verkommt er in seiner Besessenheit.
Der Epilog führt zurück in die Rahmenhandlung: der Autor taucht wieder auf, der Spiegeleffekt verschwindet, nur ganz schwach erscheint das Bild des Publikums. Alle Schauspieler*innen sitzen am Bühnenrand, hypothetisch wird in rasantem Wortwechsel zusammengetragen, was passiert sein könnte, das Denkbare im Konjunktiv. Doch dann unterbricht Dr. H.: „Sie spüren, dass ich noch das Ende der Geschichte zu erzählen habe.“
Es folgt „Das Bekenntnis“. Das Spiel geht weiter an der Rampe, jetzt in verteilten Rollen: eine steinreiche Alte, (kurios: Minna Wündrich) liegt im Sterben; verniedlichend erzählt sie von ihrem verstorbenen leicht debilen Mann, dem „Albertchen selig“, der so „treu und brav“ war, aber dennoch drei Kinder ermordete. Alle in roten Kleidchen. Und der auf dem Weg zum vierten Mord bei einem Unfall mit einem Lastwagen umkam. Ein Zufall.
Eine ganze Generation sah einst den Film „Es geschah am hellichten Tag“ mit Heinz Rühmann als Polizeikommissar Matthäi und Gert Fröbe als Serien-Kindsmörder Schrott. Friedrich Dürrenmatt lieferte das Treatment für das Drehbuch zu diesem Film, der vor allem warnen und aufklären wollte. Er wurde 1958 auf der 8. Berlinale gezeigt und anschließend zu einem grandiosen Erfolg. Doch schon während der Dreharbeiten war der Autor unzufrieden mit der logischen Handlungsentwicklung, die „wie eine Rechnung aufgeht“. Und so schrieb er bereits im gleichen Jahr auf der Grundlage des Filmskripts den Roman Das Versprechen, in dem er zwar vieles aus der Filmhandlung übernahm, jedoch einen grundsätzlich anderen Blick auf die Arbeit der Polizei und auf die üblichen Ermittlungsabläufe in den gängigen Kriminalromanen warf. Er gab dem Roman den Untertitel: Requiem auf den Kriminalroman und kündigt damit selbstgewiss das Ende des üblichen Krimi-Ablaufs an – da irrte Dürrenmatt wohl! Er setzt sich in der Romanversion über die Regeln des herkömmlichen Kriminalromans hinweg, den er entschlacken will von „Schwindel“ und „Märchen“ und erst recht von der „staatserhaltenden Lüge“, dass Verbrechen sich nicht lohne. So die Erklärung - im Roman wie im Stück - gleich im Prolog. Während sich der Kommissar im Film trotz grenzwertiger Ermittlungsmethoden noch an die üblichen Krimi-Regeln hält und zielsicher zum erwarteten Erfolg gelangt, setzt Dürrenmatt sich im Roman über diese Folgerichtigkeit hinweg und lässt den Zufall, das Berufsglück, entscheiden.
Dürrenmatts Intention, dass die Abläufe im Kriminalroman - wie im Leben - kein Schachspiel mit Happy-End seien, denen auf Grund schicksalhafter Störfaktoren nur zum Teil mit Logik beizukommen sei, sowie die brillante Sprache des gescheiten Textes finden in Düsseldorf in Adaption und Inszenierung eine grandiose Umsetzung und kongeniale Bebilderung. Zwei Stunden Spannung und beste Unterhaltung.