Faust II – eine visionäre Bestandsaufnahme einer neuen Zeit
Regisseur und Puppenspieler Moritz Sostmann hat im Februar am Schauspiel Köln Faust I auf die Bühne gebracht, „wo es um die Fragen nach der Liebe, dem Ich, der Beziehung zur Familie geht“ (so Sostmann). Jetzt kam Goethes Alterswerk Faust II im Depot 2, der kleinen Bühne, zur Aufführung. Goethe verfügte, dass dieses ausufernde, fantastische, alle Formgesetze sprengende Werk erst nach seinem Tod erscheinen durfte. Hier geht es, im Gegensatz zu Faust I, der Seelenschau eines modernen, unersättlichen Menschen, mehr um das Panorama einer Epoche, um den Blick in die Zukunft, um Politik, Ökonomie und Macht. Sostmann hat den voluminösen Text extrem gekürzt und handelt die Themen wie Geldschaffung, Familiengründung, Gesellschaftsordnung und Krieg im Rahmen der wesentlichen Geschichten ab.
Ort des Geschehens ist eine – zunächst von Plastikbahnen verhüllte – Bar. Ein klug gewählter Ort, kommen doch hier Gespräche über die eben erwähnten Themen zumindest im Ansatz oft zustande. Im Hintergrund sehen wir ein Theaterportal mit rotem Vorhang. Spielstätte für manch fast idyllisch wirkenden Auftritt, so unter anderem den von Helena. Das naturalistische Bühnenbild dort erinnert an alte Gemälde.
Sostmann setzt auch in Faust II äußerst gekonnt geschaffene Puppen ein, die von den Schauspielern perfekt geführt werden, durchaus ein Eigenleben führen und mit den menschlichen Akteuren kooperieren. Für Sostmann sind „Puppenspiel und Schauspiel Ausdrucksmittel, die konstruiert sind“. Ihn interessiert „der Widerspruch, wenn sich das eine versucht, mit dem anderen zu vertragen“.
Zu Beginn des Abends sitzt Mephisto (Yvon Jansen) mit schwarzen Engelsflügeln am Tresen. Ihm gegenüber ein verschlafener Faust im blauen Anzug (Philipp Pleßmann). Eine Puppendame, wie die anderen Puppen etwa in halber Lebensgröße, in schwarzem Paillettenkleid und löchriger Strumpfhose an eine Halbweltbardame erinnernd, fasst kurz den Inhalt des ersten Aktes zusammen, später dann auch jeweils den Inhalt der folgenden Akte. Faust erwacht und fühlt „des Lebens Pulse schlagen“. Mephisto ist zum Narren mutiert und bringt ihn an den Kaiserhof. Der Kaiser tritt als Puppe auf und wird später demonstrativ an die Wand gehängt, was an die Kreuzigung Christi erinnert. Mit wenigen Handgriffen wird die Schaffung des Papiergeldes vorgeführt. Im Weiteren erfahren wir unter anderem, wie Faust und Helena, die aus dem klassizistischen Theater herabsteigt, eine Ehe führen, einen Sohn, Euphorion, zeugen und wie dieser durch ein Auto ums Leben kommt. Kurz nachdem er ein Pappschild mit den bekannten Versen „Oh Augenblick, verweile doch, du bist so schön.“ zerrissen hat. Der Homunculus, auch er eine Puppe, wird erschaffen, ein eigenartiges, faszinierendes Bild. Philemon und Baucis, das alte Paar, das Fausts imperialistischen Gelüsten zum Opfer fällt, spielt in einer anrührenden Szene mit Würfeln – so lebensecht, dass man fast vergisst, dass es nur Puppen sind. Und wenn Mephisto sie in schwarze Müllsäcke packt, ist dies eine äußerst berührende Darstellung des Augenblicks des Todes. Ebenso wie der Moment, wenn der alte Faust (in Gestalt einer Puppe) erzittert und dann stirbt: „Es ist vorbei.“
Ein Abend mit zahlreichen fantasievollen, bewegenden Regieeinfällen und vielen Songs. Ist Pleßmann doch ebenfalls ein hervorragender Klavierspieler und Sänger, der das Publikum auch dank des hervorragenden Ensembles (zu nennen wären noch: Sophia Burtscher, Thomas Brandt, Nicolas-Frederick Djuren, Magda Lena Schlott, Johannes Benecke, Steffi König, Franziska Rattay) in seinen Bann zieht.
Und was kann man mehr von einem fesselnden Theaterabend erwarten?