Liebe, die ins Leere läuft
Wenn man sich vor dem Besuch der Premiere von Shakespeares Titus Andronicus im Kölner Orangerie-Theater ein wenig informieren möchte und von „unspielbar, blutrünstig und menschenverachtend“, siebzehn Morden, diversen Verstümmelungen, einer brutalen Vergewaltigung, mit Kannibalismus, und mit über zehn handelnden Personen liest (die man kaum alle behalten kann), fragt man sich natürlich: wie machen die das nur? Zumal das Stück von T. S. Elliot, dem amerikanischen, mit einem Nobelpreis geehrten Dramatiker, Lyriker und Kritiker, als eines „der dümmsten jemals geschriebenen Stücke“ bezeichnet wurde: „Eine krude Handlung, voll gestopft mit blutigen Grausamkeiten, eine artifizielle Sprache und flache Charaktere“ reizt ja nun nicht unbedingt dazu, dass Stück zu inszenieren. Eine erste weit beachtete Inszenierung von Peter Brooks 1955 in Stratford on Avon brachte Titus Andronicus gebührende Anerkennung; später haben sich Dürrenmatt und Heiner Müller des Stückes angenommen, und auch ein Splatter-Hollywoodfilm von Julie Taymor mit Anthony Hopkins wurde 1999 gedreht.
Nun - sie haben es gemacht, und wie! Der Reiz an dem Stück, wie der Kölner Literaturwissenschaftler und Dramaturg Tim Mrosek, der den Abend konzipierte und auch Regie geführt hatte, im persönlichen Gespräch offenbarte, war für ihn die Faszination. im Grunde hilflose Personen zu zeigen, die in dieser schicksalhaften Konfiguration nicht anders können als zu meucheln und zu morden; ein Machtkampf in einer dekadenten Gesellschaft. Und natürlich auch die Herausforderung, ein „unspielbares“ Stück auf einer kleinen Bühne zu bringen; da wäre für ihn die historische Location „Orangerie“, ehemalige Festung und späterer Wirtschaftsbetrieb für den städtischen Volksgarten, ein idealer Ort. Nur – wie geht das? Der Shakespearesche Originaltext wurde mäßig gekürzt, zwei Monologe und einige Songs eingefügt, alle fünf Schauspieler*nnen, die mehrere Rollen übernommen hatten, schwarz gewandet und zur aktuellen Identifikation mit farbiger Schärpe oder Kleidungsteilen versehen. Auch Hände und Finger wurden natürlich nicht abgehackt, sondern einfach mit dem schwarzen Pulli überdeckt.
Zentrum des grausigen Spiels ist ein XXL-Ghettoblaster auf einer nackten Bühne, als Versteck für Szenenwechsel und für alle möglichen Accessoires, als Podium für beeindruckende Monologe. Die Geschichte ist kompliziert genug: Im Grunde geht es um Liebe und Hass, die als antagonistische Schwestern sich quasi bedingen und in ihrer Bedingtheit katastrophale Folgen zeitigen.
Tim Mrosek spielt in seiner sehr effektiven Inszenierung mit vielen Bildern: einem Mord folgt immer ein Guss Theaterblut auf den weißen Bühnenboden Die im Krieg erschlagenen einundzwanzig Söhne des Titus werden mit ebenso vielen Leichentüchern symbolisiert, die phallusähnlich gerollt und im Wald wie Stelen aufgestellt werden. Der Mohr Aaron, verschlagener Geliebter der Tamora, fungiert wie ein Conférencier in einer Show, outet sich als syrischer Flüchtling („Wir sind immer die Bösen“), sagt über Mikrofon die kommenden Szenen an und spricht die Zuschauer als „Leute von Rom“ an, während im Hintergrund eine Opernszene erklingt – alles doch nur fiktives oder irrationales Spiel? Die Akteure tanzen und singen mehrfach in einer heftigen Choreografie, zum Teil mit Gesichtsmasken, es wird immer spannender. Bosheit, Gier, Rache und Grausamkeit hatte es schon immer gegeben; der Titus ist daher zeitlos und passend auch mit etlichen aktuellen Zitaten und Anspielungen ausstaffiert, so auch von Jan Böhmermann.
Die sich ständig steigernde Dramatik liegt in dem hervorragenden Schauspiel-Ensemble mit Dorothea Förtsch, Georgios Markou, Melissa Moßmeier, Asim Odobašic und Lucia Schulz. Alle haben zwei bis drei umfangreiche Rollen zu sprechen hatten, und das ganz ohne Soufflage. Durchgängig hohe Schauspielkunst, eine perfekte Deklamation, überzeugende Bewegung – eine Einzelwertung erübrigt sich daher, allen gebührt gleichermaßen die Palme des Abends. So empfanden es auch die Zuschauer im ausverkauften Theater.