Übrigens …

Sprengkörperballade im Köln, Schauspiel

Nicht die Spielerin ist das Subjekt, sondern ihr Spiel

Mitten in der Baustelle des Theater-Stammhauses am Offenbachplatz befindet sich seit dieser Spielzeit die kleinste Spielstätte des Kölner Schauspiels. Die kleinste Spielstätte – früher war dies die „Grotte“ am CarlsWerk – ist seit Beginn der Intendanz von Stefan Bachmann eine sichere Bank: Dort ist noch nie eine Inszenierung misslungen. Highlights sind eher die Regel – und die haben oft erschreckende Inhalte.

Lange graue Tuchbahnen hängen von den Seitenwänden der Bühne, die sich in der Mitte verknoten. Darunter zeichnen sich zwei eng umschlungene Körper ab, die sich langsam aus der Decke schälen. Sie gehören Nicola Gründel und Elias Reichert - Mutter Djana und Tochter Gina. Sie repräsentieren das erste von drei Frauen-Paaren, in denen die Partner jeweils symbiotisch miteinander verbunden scheinen. Zumindest für Djana gilt: Die Ganzkörperverhüllung unter den Stoffbahnen ist ein Sinnbild für ihren Eskapismus. Ihr Mann hat sie dereinst verlassen – ob er der Beziehung überdrüssig war oder dubiosen „Geschäften“ zum Opfer gefallen ist, bleibt unklar -, und diesen Verlust hat Djana nie bewältigt. Sie schottet sich ab von der Außenwelt und zwingt ihre halbwüchsige Tochter in Rollenspiele: Gina muss die Funktion ihres Mannes übernehmen – auch in sexueller Hinsicht. Was Djana mit Gina treibt, ist sexueller Missbrauch, wenn nicht gar Vergewaltigung. Durch die Besetzung der Tochter-Rolle mit einem zart gebauten jungen Mann verstärkt die Regisseurin Andrea Imler die Wirkung dieses Missbrauchs: Intimes Kuscheln mit der Tochter – das mag ja noch angehen. Sexuelle Spielchen mit dem minderjährigen Sohn: Das ist das Grauen.

Gina vermag sich dem nicht zu entziehen. Ihrer Schwester Zabina ist das besser gelungen. Auch sie hat die Familie eines Tages einfach verlassen. Nun streunt sie mit ihrer Freundin Bine durch die Stadt – heimatlos, mit einer herausfordernden, unterschwelligen Aggressivität, immer auf der Suche nach neuen Erlebnissen, aber mit einem merkwürdig verqueren Verhältnis zur Sexualität. Auch sie spielen Rollenspiele aus der Vergangenheit, und einige davon zeigen, dass auch Zabina den Verlust der Familie nicht überwunden hat. Oft aber sind es Eifersuchtsspiele. Bine und Zabina sind zwei Kampfhühner mit einer verborgenen Sehnsucht nach Nähe. Da es niemanden gibt, der ihnen diese Nähe zu gewähren bereit ist, wird auch Zabina übergriffig und greift der unter ihrer Unberührtheit leidenden Bine in eindeutig sexueller Absicht in die Hose. Bine wiederum verführt den Mann, der sich an ihre Freundin heranmachen will, auf dem Klo. Und erzählt es nicht: „Weil man nicht immer alles erzählen kann“. Eine weise Erkenntnis in diesem Stück über sechs Frauen, in dem manche ihre Partnerinnen mit ihren Geschichten vor allem quälen.

Während Djana - und eher unfreiwillig auch Gina - sich von der Außenwelt abschotten, leben Bine und Zabina scheinbar nur „draußen“. Die einen haben keine Welt, die anderen kein Zuhause. Das dritte Frauen-Paar in Magdalena Schrefels durchaus metaphorisch zu nehmender Schauerballade ist nicht ohne weiteres „drinnen“ oder „draußen“ zu verorten. Cookie und Fuzzi sind ein uraltes Schwestern-Paar, das zu Beginn des Abends nur ab und an leise brabbelnd um die Spielfläche humpelt, sich aber zunehmend Raum für gespenstische Kinderspiele nimmt. Auch hier sind – wie bei Djana und Gina – die Rollen eindeutig verteilt: Cookie, gespielt von der gigantisch großen und breiten Sabine Orléans, ist die Dominante, Kristin Steffens Fuzzi, klein und schmal und für die Rolle der alten Frau mit unendlich langen Hängetitten ausgestattet, ist die Abhängige in dieser Beziehung. Fuzzi wird schikaniert und gegen Ende sadistisch gequält. Das fordert Opfer: Fuzzi erfriert beim Eskimo-Spielen im Eiswasser, und Cookie verliert ihre einzige Stütze und Lebensgefährtin. Beide schreien wie am Spieß – und dieses Schreien ist unterschiedslos, gleich ob es von der in Lebensgefahr schwebenden Fuzzi oder von der vor der lebenslangen Einsamkeit stehenden Cookie stammt.

Magdalena Schrefel lässt schon in ihren Regieanweisungen größtmöglichen Freiraum für die Besetzung und damit die Interpretation ihrer Figuren. So schlägt sie vor, jeweils eine der Paarfiguren mit einer Puppe zu besetzen. Tatsächlich gibt es in jedem Paar – am wenigsten bei Zabina und Bine – eine aktive Figur, die ein grausames Spiel spielt, und eine passive, die funktionieren muss und deren eigener Wille entweder abgetötet wurde oder erbarmungslos unterdrückt wird. Stets sei das Spiel das Subjekt, niemals seine Spielerinnen, fordert Schrefel. Wir alle seien nur Geschichten, die Geschichten erzählen. Überzeugend arbeitet Regisseurin Andrea Imler heraus, wie sich die Spiele verselbständigt haben zu quälerischen, sadistischen Ritualen. Bei jedem Paar erleben wir krasse sexuelle Übergriffe. Sex ist ein böses Tier in diesem ersten abendfüllenden Stück der jungen österreichischen Dramatikerin; Liebe existiert allenfalls als Schatten der fatalen Abhängigkeiten, die Menschen zu puppenähnlichen Wesen degradieren.

Das Spiel der sechs Schauspieler(innen) ist fulminant. Cookie und Fuzzi sind in Imlers Inszenierung Figuren wie aus einer fernen Märchen- oder Horrorwelt. Sabine Orléans stattet den Quälgeist mit einer gewissen Lakonie aus, bevor sie ihre eigene Bedrohung erkennt; Kristin Steffens Fuzzi könnte ein Wiedergänger des Lucky aus Warten auf Godot sein. Gründel und Reichert geben Djana und Gina durchaus als real people. Was sie spielen, existiert in unserer Welt allerdings nur im Verborgenen. Reicherts zartes Aufbegehren ist zutiefst anrührend; Gründel ist eine weiche, verletzliche Mutter, die ihre Tochter dennoch mit einer stahlharten Autorität terrorisiert. Lou Zöllikaus Zabina und Marlene Tancziks Bine kennen wir von der Straße, aus der Disko oder vom letzten McDonald’s-Besuch. Schauspielerisch sind die beiden eine Schau – interpretatorisch stellt ihr Paar die größten Herausforderungen. Gleich gekleidet, mit nahezu exakt gleichen Körpermaßen agieren sie häufig exakt synchron – wie eine Person in zwei Körpern oder wie zwei Zwillingsschwestern, die voneinander nicht lassen können. Ihre Unterschiede und ihre Abhängigkeitsverhältnisse kristallisieren sich erst nach und nach heraus. Bine ist die einzige der sechs Figuren, bei der es vorstellbar scheint, dass sie sich aus der Abhängigkeit befreien kann. Doch Zabina und Bine bringen die Parallelen zwischen den Paaren einmal in einem kurzen Dialog auf den Punkt: Sie erzählen von einem Ferienaufenthalt, in dem sie „Beckenränder-Kinderschänder“ oder das Spiel, „dass man einander gehorchen muss“, gespielt haben. Das sind die „Spiele“, die Djana mit Gina und die Cookie mit Fuzzi spielt – bis eine es nicht mehr aushält und das Spiel verlässt: in den Tod oder in die wilde Stadt. In den Freundinnen ist bereits angelegt, dass sich möglicherweise zwischen ihnen ähnlich wie bei Cookie und Fuzzi eine symbiotische, aber im wahrsten Sinne des Wortes qualvolle Altersbeziehung entwickeln könnte.

Das Stück endet mit einem wunderschönen Monolog von Kristin Steffen. Man könnte ihn als Mutmacher betrachten nach diesem erschütternden Blick auf drei in ihrem Leben scheiternde Paare. Ein Lachen könne immer auch ein Weinen sein – und ein Weinen ein Lachen, sagt Fuzzi. Die Hauptsache sei, „eines von beiden zu machen / Und nicht immer nur nach den Regeln zu spielen / Sondern einfach bloß weiter / Immer weiter zu spielen.“ Man könnte dieses Ende als einen kleinen Hoffnungsschimmer deuten, der ein wenig Licht in diese beklemmende, klaustrophobische Welt bringt. Aber so abrupt wie in Köln das Licht ausgeht, mögen wir daran kaum glauben. Irgendwann ist das sadistische Spiel vorbei. Dann tritt der Tod ein.

P.S.: Ein Gedanke zum Schluss, der sich in dieser Inszenierung nicht aufdrängt: Die Familie von Djana und ihrem Mann, von Zabina und Gina ist vor geraumer Zeit aus Osteuropa zugezogen. Es handelt sich also um Menschen mit Migrationshintergrund. Ob ihre Verkapselung, ihre scheiternde Alltagsbewältigung etwas mit der mangelnden Fähigkeit zur Anpassung an eine neue Kultur zu tun hat, sei dahingestellt. Weder der Text noch die Kölner Inszenierung geben Hinweise darauf, aber offenbar ist die Erinnerung an das ferne Heimatland noch lebendig. „Fisch“ möchte Djana genannt werde, „Fisch“ nennen die Männer Zabina und Bine häufig. „Fisch“ ist in den slawischen Sprachen der Kosename für eine geliebte Frau. „Hier heißt Fisch einfach glitschig und Stinken“, stichelt Bine.

 Imlers Inszenierung stinkt nicht, und sie ist auch nicht glitschig. Sie leuchtet – und ist glasklar und präzise.