Übrigens …

Judas im Moers, Schlosstheater

Jemand musste es tun

Jemand musste es tun“, sagt Frank Wickermann. Wenn wir die winzige Kapelle an der Rheinberger Straße betreten, hängt er bereits an einem langen Flaschenzug von der Decke. Judas hat sich erhängt. Nach den Gesetzen des Staates, in dem er lebte, hätte er zum Tode verurteilt werden müssen, als er sich selbst des Verrats bezichtigte und klar wurde, dass aufgrund seines Verhaltens Jesus Christus hatte sterben müssen. Doch die Hohepriester und die Ältesten, die Vertreter der Staatsmacht – sie alle zuckten nur mit den Schultern und sagten: „Was geht uns das an?“ So warf Judas den Verräterlohn von dreißig Silberlingen in den Tempel und brachte sich um. Irgendjemand musste es tun, denn die Staatsmacht weigerte sich, ihren Aufgaben nachzukommen.

 „Jemand musste es tun“, sagt Frank Wickermann. Denn was wäre geworden, wenn Judas Christus nicht verraten hätte? „Kein Kreuz, kein Kuss, kein Grab, kein Gas – hätten Sie das gewollt?“, fragt er im Schlosstheater Moers, mit dem letzten Wort seiner Aufzählung ein kleines Bömbchen einschmuggelnd in seinen Text. Die Prophezeiung hätte sich nicht erfüllt, Christus wäre nie für uns gestorben, die Auferstehung hätte nicht stattgefunden. Irgendjemand musste den Verrat begehen, damit das Christentum sich entwickeln konnte. Ist Judas also der eigentliche Erlöser? Ist es nicht eigentlich Judas, der für unsere Sünden gestorben ist, und nicht er, unser Herr Jesus Christus?

Es sind überraschende Fragen, die die niederländische Autorin Lot Vekemans in ihrem wunderbaren Monolog aufwirft, den das Moerser Schauspieler-Urgestein Frank Wickermann in ein ungeheuer intensives, spannendes Solo verwandelt. Vekemans und Wickermann eröffnen ganz neue Blickwinkel auf die alte biblische Geschichte, ohne dabei den Gründungsmythos des Christentums in Frage zu stellen. In Frage gestellt werden nur der jahrhundertelang eingeübte, recht bequeme Blick auf die Geschichte – und unsere Erwartungen, wie wir sie erzählt bekommen. Wickermann steht in der Moerser Kapelle nicht auf der Kanzel, von der die herrschende kirchliche Lehre seit 2000 Jahren ohne wesentliche Abweichungen verbreitet wird. Wickermanns Judas zweifelt – nicht an Christus, nicht an seinem Glauben, aber an der Interpretation seiner Geschichte. Er malt ein gestochen klares christliches Kreuz in jede der drei Fensternischen der Kapelle, dessen Konturen er anschließend leicht verwischt. Dazu spricht er Joseph Beuys‘ „Jajajajaja neeneeneeneenee“. In perfekter Diktion kopiert er den Singsang von Beuys und seinen Adlati Hennig Christiansen und Johannes Stüttgen, die im Jahre 1969 das audioskulpturale Kunstwerk aus Filz und Tonbandgerät schufen, das als ironisches Sinnbild der unaufhebbaren Dialektik des Lebens interpretiert wird. (Basis war die ein Jahr zuvor an der Düsseldorfer Kunstakademie aufgeführte Performance des Meisters.)

Judas war der Mann, der Christus für dreißig Silberlinge verraten hat. Aber auch Judas hat seinen Herrn geliebt. „Ich wäre gern mit ihm durch die Wüste geritten ... Ich wäre gern mit ihm über die Meere gefahren, über Berge gezogen, auf dem Weg zu Ländern, die ich noch nicht kannte, auf dem Weg zu Völkern, die ich noch nicht kannte.“ Immer wieder tauchen diese Sätze in Wickermanns Monolog auf; mal gibt er ihnen eine geradezu lyrische Kraft, mal spricht er sie laut und vorwurfsvoll. Judas reflektiert seine Tat. Er hat kurz gezweifelt – „Der Mensch handelt häufiger aus Zweifel als aus Glauben“, meint er erkannt zu haben. Und er begründet seinen Zweifel: Allzu viele Messiasse seien damals durch die Lande gezogen, denen man auf den Leim gehen konnte. Aber dieser „war anders. Er glaubte an Veränderung.“

Auch der historische Judas konnte sich von der Dialektik des alltäglichen Lebens im Sinne von Joseph Beuys nicht lösen. Er glaubte, zweifelte, glaubte - liebte, und wollte vielleicht deshalb glauben. Erwartungen wurden nicht immer erfüllt – so wie Wickermann uns schon zu Beginn der Aufführung prophezeit, dass auch unsere Erwartungen als Zuschauer und zumindest rudimentäre Kenner der biblischen Geschichte nicht erfüllt werden. Die Wahrnehmungen des historischen Protagonisten verschwimmen bisweilen, und die unterschiedlichen Blickwinkel von Vekemans Text lassen die Geschichte unschärfer werden – wie die Kreuze, die Wickermann in die Fensternischen malt und anschließend verwischt. Zumindest in der besuchten Aufführung verschwammen die Konturen dieser Kreuze auf höchst unterschiedliche Weise – eines wirkte geradezu plastisch nach dem Wischvorgang. Das mag gewollt sein oder nicht – es passte zur Intention des Stückes. Wickermann lässt sogar die Person des Judas mit seiner eigenen, persönlichen Biografie ineinander fließen und verschwimmen. Er erzählt von Frank, dem hitzigen Kind und dem Raufbold – und stellt fest, nur die Hälfte seiner Erinnerungen seien wahrscheinlich wirklich wahr. Erinnerungen, Wahrheiten, Zweifel (und die Berechtigung zu zweifeln), der Wunsch und die Notwendigkeit zu glauben – mit all diesen Motiven spielt das Stück von Vekemans virtuos. Judas wird zumindest teilweise rehabilitiert. Dennoch findet sich niemand im Publikum, der seinen Namen mit ihm tauschen möchte. Wickermann zieht sein schwarzes Glitzershirt, auf dem der Name Judas gestanden hatte, auf links. Nun prangt dort „Frank“. Doch: „Ich bin Judas“, sagt Wickermann in trotziger Selbstbehauptung. „Ich bin stolz auf meinen Namen.

Mit seiner eindringlichen Performance hat Wickermann Kathrin Leneke, der jungen Regieassistentin des Schlosstheaters, zu einem bemerkenswerten Regie-Debüt verholfen. Vor allem aber gebührt Leneke der Dank dafür, Lot Vekemans großartigen Versuch der Rehabilitation einer der verhasstesten Gestalten der Religions- und Literaturgeschichte gut vier Jahre nach der Deutschsprachigen Erstaufführung an den Münchner Kammerspielen auch in NRW bekannt zu machen. Jemand musste es tun!