Die nervöse Republik - oder : wie ticken wir eigentlich?
Was für ein Stück: Eigentlich nur eine endlose Debatte. Joël Pommerat berichtet in La Révolution die Debatten in der französischen Nationalversammlung vor Beginn der Revolution. Wie soll ein Staat aussehen, welche Rechte gibt er welchen Bürgern? Aber auch praktische Fragen werden aufgeworfen. Ach, das ist alles lange her, Schnee von gestern und taugt allenfalls dazu, Schulklassen Geschichtsunterricht zu erteilen. Von wegen. Pommerat erfasst mit jeder Zeile, jedem Wort das Wesen unserer Zeit. Er schildert in historischem Gewand all’ das, was uns in unserer nervösen Republik bewegt. Angst vor sozialem Abstieg, zunehmende Radikalisierung, den Hass auf Eliten. Soll man dem Druck der Straße nachgeben? Und wie lassen sich Ideale mit einer rasant sich verändernden Wirklichkeit vereinbaren?
Zu theoretisch und allenfalls für den Hörsaal geeignet? Von wegen. Das Team des Theaters Münster schafft eine sprudelnde, quirlige, vor Leben nur so sprühende Umsetzung von Pommerats Stück, das in seinem Wesen und Duktus an die historischen Romane Lion Feuchtwangers gemahnt. La Révolution #1 – Wir schaffen das schon ist der Titel in Münster. Wie Angela Merkel ist König Louis der Meinung, die finanzielle Staatskrise überwinden zu können. Doch dann überstürzen sich die Ereignisse.
Auf der Bühne ein holzvertäfelter Versammlungssaal - doch das Bühnenbild ist eigentlich völlig nebensächlich. Denn das komplette Große Haus verwandelt sich in den Tagungsort. Ein hölzerner Steg ragt hinein in den Zuschauerraum. Direkt kommunizieren die Abgeordneten dort. Im Raum sitzen verteilt Mitglieder der Nationalversammlung, die die Debatte mit Zwischenrufen und Kommentaren befeuern. Das Einbeziehen eines „Chores“ in die Inszenierungen des Schauspiels Münster, das dessen Direktor Frank Behnke inszeniert hat, wird hier perfektioniert. Hier tauchen dessen Mitglieder nicht mehr als anonyme Masse auf, sondern bringen sich als Individuen ein. Dadurch gelingt es, das Publikum zum Bestandteil der emotionalen Debatten werden zu lassen, die da geführt werden. Wir werden hineingezogen ins Geschehen und vor allem gezwungen, Stellung zu beziehen hinsichtlich der gesellschaftlichen Fragen, die uns alle betreffen und angehen. Und wir können alle fast körperlich erfahren, wie sehr sie uns angehen!
Auf der Bühne steht ein Mikrofon. Das ist umkämpft. Das Gerangel ums Rederecht wird zum letztlichen Fight um die Meinungsführerschaft. Das Prinzip scheint zu sein, dass, wer am meisten und lautesten quatscht, Recht hat. Wollen wir das wirklich? Am Ende meint König Louis – bereits gefangen in seinem Palast in Paris: „Wir schaffen das schon“. Schon bald wird man ihm der Kopf abschlagen. Wie können wir solche Realitätsverluste vermeiden? Viel zu denken vor, während und nach der Premiere.
Das Team des Theaters Münster realisiert einen perfekten, komplexen Abend, der jeden von Beginn bis zum Ende elektrisiert haben dürfte. So lebendig und faszinierend auch deshalb, weil er aus einem tief verwurzelten Ensemblegeist geboren wird, den wir in Münster schon sehr häufig erleben durften. Jeder gibt sein Bestes und hört, reagiert auf den Anderen. Nur so kann ein kleines Theaterwunder geschehen. Und deshalb wird an dieser Stelle auch niemand besonders herausgehoben. Stattdessen ein ernst gemeinter Kniefall und tiefe Hochachtung vor allen Beteiligten. Denn hier ist eine Komponente der Ideale der französischen Revolution oberstes Gebot: Égalité! Der Dank gilt: Bernward Bitter, Nicolas Bork, Marie-Luise Brakowsky, Jürgen Brakowsky, Kevin Cichy, Johanna Demory, Daniel Drüge, Nele Erichsen, Niklas Lübbeling, Alexander Leyfeld, Elke Nagel, Sabine Roters, Iris Ströcker, Rena Weniger, Florian Wölk – sie sind die Abgeordneten der Nationalversammlung und die Bürger von Paris. Und zu danken ist ebenso den Protagonisten Hubertus Hartmann, Regine Andratschke, Carola von Seckendorff, Ilja Harjes, Gerhard Mohr, Christian Bo Salle, Andrea Spicher, Bálint Tóth, Maike Jüttendonk, Ulrike Knobloch, Daniel Rothaug, Frank-Peter Dettmann und Tomasz Zwozniak sowie dem Regie Team Stefan Otteri, Peter Scior und Sonja Albartus. Sie alle erschaffen im grandiosen Zusammenwirken einen zutiefst eindrücklichen Theaterabend. Danke