„Korruption sieht man nicht.“
Das Autorenteam Rimini Protokoll arbeitet seit 2000 in immer neuen Konstellationen an einer Theaterform, die sogenannte Alltagsexperten – Menschen wie du und ich, keine Schauspieler – ins Zentrum ihrer Arbeit stellt. Ziel ihrer Arbeit ist es, neue und ungewöhnliche Sichtweisen auf unsere Wirklichkeit zu ermöglichen. Mit der Serie Staat 1-4 begibt sich Rimini Protokoll auf eine Recherche in die Felder außerhalb dessen, was heute vom Nationalstaat organisiert und kontrolliert werden kann. Inwieweit sind die Gewalten, deren Teilung einmal die wesentlichen Mechanismen zur Kontrolle des Staates strukturieren sollte, heute noch in der Lage, die entscheidenden Impulse zur Veränderung, der die Gesellschaft ausgesetzt ist, zu regulieren?
Die im Auftrag des Berliner Haus der Kulturen der Welt entstandene Reihe wird an vier Theatern realisiert: Top Secret International (Staat 1) an den Münchner Kammerspielen, Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2“ am Düsseldorfer Schauspielhaus, Träumende Kollektive (Staat 3) am Staatsschauspiel Dresden und Weltzustand Davos (Staat 4) am Schauspielhaus Zürich.
Die zweite Produktion hatte jetzt in Düsseldorf Premiere. Sie befasst sich mit einer Großbaustelle, die man als ein Modell für den Zustand der Gesellschaft sehen kann. Eine Art Freiraum, in dem moralische Werte, Gesetze, häufig nicht beachtet werden. Nach langer Vorbereitungszeit fand Rimini Protokoll acht Experten, denen das Publikum auf einer Art szenischen Baustellenführung begegnet. In jeweils 8 bis 10 Minuten langen Vorträgen erfahren wir zum Teil Erschreckendes.
Zum Beispiel über den Betrug durch die Verwendung billiger Materialien. Ein investigativer Journalist beschreibt, wie verschmutzter Abfallsand anstatt gewaschenen Rheinsandes für einen Kinderspielplatz geliefert wurde. Natürlich zu einem hohen Preis. Trocken stellt er fest: „ Ist ein Gebäude erst einmal errichtet, prüft niemand mehr, was verbaut wurde.“
Das Publikum wandert in festen Gruppen über einen Parcours im großen Haus des Central. Zahlreiche Helfer dirigieren die Besucher, reichen Helme mit eingebauten Kopfhörern und sorgen für einen bis ins Detail geplanten reibungslosen Ablauf des Abends. Man nimmt auch einmal kurzfristig auf der Besuchertribüne Platz, um dem Vortrag eines Ameisenforschers und Experten für Schädlingsbekämpfung zu lauschen. Treffend vergleicht er Ameisen und Menschen. Ameisenarbeiter bezeichnet er als „von Geburt an ausgelernte Facharbeiter“. Er stellt das Leben im Ameisenstaat dem Gewusel auf der Baustelle gegenüber – und von der Tribüne aus sieht auch das Gewimmel auf der großen Bühne so aus -, lobt die Effizienz der Struktur des Ameisenbaus, während er den Menschen als „Schädling im ökologischen Sinne“ bezeichnet, der u.a. mit viel Aufwand Gebäude errichtet, die zuweilen nie benutzt werden. Ein Professor für internationale Stadtforschung informiert uns, welche katastrophalen Fehler in Bezug auf das Klima in der in kürzester Zeit in die Höhe geschossenen Stadt Singapur gemacht worden sind. Er stellt diesem Negativbeispiel eine mögliche Stadtplanung in Addis Abeba gegenüber, wo tunlichst heimische Materialien verwendet werden sollen und man sich auf eigene Bautraditionen besinnen müsse. Wir lauschen in einem Baucontainer einer Immobilienmanagerin, spezialisiert auf Anlagen im Luxussegment. Und lernen Alfredo di Mauro kennen, der bis zu seiner Entlassung für die Entrauchungsanlage am Berliner Flughafen Tegel zuständig war. Er schildert ausführlich, welche Machenschaften diesen Riesenbau verzögert haben. Man suchte einen Sündenbock, er verlor seine Stellung. Ein Video zeigt die Vorstände und Politiker bei einer Pressekonferenz, die versuchen, die Verschiebung der Fertigstellung mit technischen Problemen zu erklären. Ein Anwalt, Fachmann für Fragen des Baus, erklärt, wie Unternehmer fadenscheinige Gründe für Versäumnisse und Verzögerungen auf dem Bau vorbringen, und warum sich Prozesse ob solcher Fragen endlos hinziehen.
Es ist ein unheimlich spannender und informativer Abend, an dem man Einblicke in die Grauzonen eines Riesengeschäftes bekommt. Durchaus auch manchmal auf ironische oder witzige Weise.
Ein Besuch dieser Inszenierung ist unbedingt lohnenswert. Das Premierenpublikum dankte mit begeistertem Applaus.