Language Is A Virus
Wenn in wenigen Wochen die Jury des Mülheimer Dramatikerpreises tagt, wird möglicherweise wieder über die „Welthaltigkeit“ der vorgestellten Stücke diskutiert. „Welthaltigkeit“ war in den vergangenen Jahren häufig ein Kriterium, mit dem die Juroren die Relevanz der vorgestellten Stücke zu beurteilen versuchten. Welthaltigkeit hat das neue Stück von Forced Entertainment, das soeben im Essener Choreografischen Zentrum PACT Zollverein seine Uraufführung erlebte, im Überfluss. Die Welt, die darin steckt, kann Anspruch auf Vollständigkeit erheben: Es ist die aktuelle Welt ebenso wie die zukünftige und die historische, die reale ebenso wie die fiktive, die filmische ebenso wie die literarische. Irgendwann glaubt man, nun könne den Performern beim besten Willen nichts Neues mehr einfallen. Und dann stürmen ganze Horden von wilden Tieren die Bühne und werden zur existenziellen Bedrohung. Dystopia never ends.
Zwar steckt die ganze Welt in diesem Stück, doch in der Theateraufführung steckt: gar nichts. Jedenfalls kein Theater. Cathy Naden und Robin Arthur erzählen Geschichten – sonst nichts. Sie sitzen auf zwei Stühlen auf einer altmodischen Vaudeville-Bühne und versuchen sich gegenseitig im Erfinden grotesk übersteigerter Katastrophenszenarien zu überbieten. Diese Katastrophenszenarien ereignen sich in einem fiktiven Theater – in der ultimativen Show, die alles zu Theater macht, was in dieser Welt geschieht, bereits geschehen ist oder in der Zukunft vorstellbar ist. Schon der Aufschlag hat die zerstörerische Kraft eines Service von John Isner oder Sabine Lisicki: Gleich im ersten Satz ereignen sich fünf große atomare Explosionen. Es folgen Autounfälle sowie ein gigantisches Zugunglück. Anschließend rauscht ein Fahrstuhl aus dem 90. Stock eines Hochhauses ungebremst abwärts – und stoppt erstaunlicherweise unmittelbar vor dem Aufschlag auf dem Boden. We can hear them screaming – aber nur in unserer Phantasie. Denn tatsächlich tut sich: nichts. Cathy Naden und Robin Arthur erzählen Geschichten. In feinstem, für das vorwiegend aus Non-Native Speakern bestehende Publikum behutsam und vielleicht ein wenig zu prononciert gesprochenem Englisch. Irgendwann wird einer der Performer aufstehen und ein paar Schritte gehen – das ist schon alles, was über das konventionelle Märchenerzählen unterm konventionell geschwungenen dunkelroten Vorhang hinausgeht. Allerdings tritt nach diesen ersten Desastern eine dritte Performerin in Aktion: Terry O’Connor bedient im Hintergrund einen alten Plattenspieler und untermalt die Geschichten mit minimalistischer, kratzender Barmusik. Auch O’Connor wird ihren Platz erst zum Schlussapplaus verlassen.
Das Erstaunliche ist: Die Theater-Apokalypse ohne Theater funktioniert. Tatsächlich hat der Abend keinen narrativen Plot, sondern die Performer nisten sich wie ein Virus in das Hirn des Zuschauers ein. Und dieses Hirn assoziiert Bilder im Akkord. Dazu mag es hilfreich sein, dass immer wieder an reale Ereignisse erinnert wird: an die Niederschlagung des Aufstands vom Tiananmen Square, an die Attentate auf John F. Kennedy und Abraham Lincoln, an den Untergang der Titanic und die Havarie der Costa Concordia, aber auch an positive Errungenschaften der Menschheit wie die Leistungen der Flugpionier-Brüder Montgolfier und Wright. Auch die fiktionalen Geschichten setzen unsere Phantasie unter Strom. Wir spinnen Erinnerungen an Horrorfilme oder Krimis weiter (tatsächlich erleben wir in unseren Köpfen den Auftritt verschiedener TV- und Film-Kommissare, die zwar nicht namentlich erwähnt werden, aber identifizierbar sind), wir steigen in die Archive unserer Theater-Erinnerungen hinab, wenn von verschiedensten Shakespeare-Szenen die Rede ist, wir werden erinnert an Konzerte oder große Sportduelle: Kasparow gegen den Schach-Roboter Deep Blue, Mike Tyson gegen Evander Holyfield. Welche Bilder sich konkret in unserem Kopf zusammensetzen, ist individuell verschieden und abhängig vom eigenen Erfahrungs- und Bildungshorizont oder auch vom Alter: Bei Erwähnung der Titanic wird der eine Kate Winslet und Leonardo Di Caprio sehen, der andere die beeindruckenden Schwarzweißbilder aus den Archiven oder von früheren Verfilmungen; die Costa Concordia hat vermutlich jeder auf die gleiche Weise als gestrandetes Riesentier in Erinnerung, während das Kennedy-Attentat eher bei den Älteren konkrete, dem realen Ereignis ähnelnde Bilder hervorruft. Und ob noch jeder etwas mit der Schlacht von Azincourt anfangen kann, sei dahingestellt - von Stalingrad aber haben sicher alle Zuschauer zumindest vage Vorstellungen.
In dem Theater, aus dem berichtet wird, ereignet sich auch Ungeheuerliches, nie Gesehenes, nie von der Kunst Bearbeitetes. Der Ansager einer Striptease-Nummer gibt nicht auf: ekelerregende sexuelle Phantasien werden ausgelebt, und man hat vergessen, zuvor die Kinder aus dem Publikum zu entfernen; Vivisektionen und Nekropsien werden in Robin Arthurs mildem, freundlichem Märchenerzählerton mit einer Plastizität geschildert, dass man als Zuschauer am liebsten die Ohren verschließen möchte. Dann sind wir wieder bei realen Vorgängen: in Edward Snowdons Moskauer Hotelzimmer, in Osama Bin Ladens letzter Zuflucht in Abottabad, auf Michael Jacksons Neverland Ranch (wer denkt da nicht an Kindesmissbrauch?). Ganz ruhig und unaufgeregt, ganz ernst und doch immer wieder auch mit großem Humor und hübschen Sprachspielen schaffen die beiden Erzähler ein unglaublich phantasievolles Panoptikum von Bildern. Manchmal sind es nur kurze Blitzlichter, die unsere Phantasie entzünden, manchmal sind es kleine Geschichten, die ausgemalt werden, und manchmal wechselt die Erzählebene unmittelbar vom mikrokosmischen kleinen Ereignis auf die Ebene großer gesellschaftlicher Umwälzungen: „Churches are established, criminal gangs prosper.“ Das sind Sätze, die einen Denkprozess in Gang setzen können: In diesem oftmals dystopischen Text wird im Grunde unsere Gesellschaft beschrieben, mit ihrer Gleichzeitigkeit von Unterhaltungskultur und drohenden politischen Katastrophen, unserer Sensationslust und unseren Ängsten. Kaum merklich hat Forced Entertainment ein gerüttelt Maß an Gesellschaftsanalyse und -kritik in den phantasievollen Text geschmuggelt.
Im Publikumsgespräch vergleicht Robin Arthur die Arbeit von Forced Entertainment mit Andrei Tarkowskis Definition des Filmemachens: „Die versiegelte Zeit“ heißt die deutsche Ausgabe von Tarkowskis Gedanken zur Ästhetik und Poetik des Films. Im Englischen klingt das griffiger: film making sei „like sculpting time“. Wie ein Bildhauer halten Tarkowski und ebenso auch Forced Entertainment die Zeit in ihren filmischen respektive theatralen Studien fest. Bei Dirty Work scheint das auch nötig zu sein, denn die Aufführung endet mit einem Weltuntergang. Die Performer beschwören ihn in einem dunklen, aber romantischen Bild: „The world ends. Sunken ships are raised at last. The lights dim; the stage is dark. Only the sounds of rain and distant thunder remain.“