Das verlogene Geschäft mit der Insel der Aufrichtigkeit
Wenn das Publikum fünf Minuten vor der Zeit in den Saal gelassen wird, scheint das Spiel schon im Gange: In einem riesigen Guckkasten sitzt ein siebenjähriges Mädchen auf einem spirrigen Hocker und starrt bewegungslos, leicht geduckt auf einen vollen Teller vor sich auf dem Tisch. Ihr gegenüber steht ein langer, schlaksiger Mann in Jeans und T-Shirt, schulterlangem Haar und bleichem Gesicht, der das Kind leicht vorgebeugt mit teilnahmslosem Blick anstarrt, ohne jedoch wirklich Kontakt zu ihm aufzunehmen. Dann löst er sich aus der Starre, bewegt sich in Zeitlupentempo in dem gläsernen Käfig um den Tisch, um dann wieder zu verharren.
Plötzlich grelles Licht, aggressiv über einen Lautsprecher die Stimme des Mannes: „Ich hab den ganzen Tag Zeit.“ Er redet auf das verschüchterte Kind ein, fragt nach Terminen, spricht von strategisch klugem Verhalten, von Verhandlungen, Perfektion und Konsequenzen, von Energieressourcen und -mengen: alles Begriffe, die nicht in den Wortschatz des Kindes und schon gar nicht in seine Welt gehören. Bedrohlich und zynisch versucht er, das Mädchen dazu zu bringen, seinen Teller leer zu essen. Lockt mit dem Fernsehprogramm und droht mit Musikverbot. Endlich reagiert das Kind: „Ich hab‘s nicht gemacht“. Und die Antwort des Mannes: „Den Ton kannst du vor den Vereinten Nationen anschlagen, aber nicht bei mir.“ Eine bizarre, perfide Entgegnung. Weiter entfernt von der Realität des Kindes kann er nicht argumentieren. Eisige Kälte, Leb- und Lieblosigkeit herrschen in dieser Glasbox. Dann bricht der Mann ab. Ihm wird übel. Er erträgt sich selbst nicht mehr.
Nachdem er zurückgefunden hat zur Selbstbeherrschung, werden wir aufgeklärt: Aus einer Dose nimmt er eine Kamera. Das ganze wurde also aufgezeichnet. Und als er das Essen auf dem Teller probiert, spuckt er es entsetzt aus und versenkt es mit samt dem Teller im Müll.
Dann dreht sich die Bühne und man erkennt, dass es sich um einen großen Kubus handelt, der von allen Seiten bespielt wird. Nach einer Vierteldrehung sind wir im Schlafzimmer. Eine temperamentvolle Frau kommt dazu. Die Zusammenhänge lichten sich: Er ist Anton, der Vater, sie Karin, die Mutter des blonden Mädchens Martina (Nina Gamet). Die Szene, die wir soeben miterlebten, war also kein familiärer Erziehungskonflikt, sondern eine Sequenz für ein bestelltes Video, in dem Martina allerdings alles aufessen muss. Anton (David Müller) zeigt Karin (Anne-Marie Lux) die neusten Aufnahmen und gesteht den Abbruch der Aufnahme, bevor der Teller leer war. Das ist ein Problem, denn da gibt es Auftraggeber, Subskribenten, die vorgeben, was in den Szenen verhandelt werden soll. Bis zu zweitausend Vorbestellungen liegen inzwischen vor für bestimmte „Erziehungssituationen“. Was wir da sehen, was da von den Subskribenten bejubelt und tausendfach verlangt wird, ist kein Erziehungsratgeber, es geht überhaupt nicht wirklich um Erziehung, es geht um Vermarktung eines Kindes, um Kindesbestrafung als reines Geschäft im Internet. Anton leidet unter den Zwängen der Vorgaben, möchte lieber „Natural-Szenen“ filmen, doch Oskar (David Lau), der Manager, der Vermarkter ist absolut dagegen, weiß, dass dafür kein Markt besteht, dass die „Natural-Kategorie völlig überlaufen“ ist. Die Käufer wissen um die Künstlichkeit der Szenen, sie wollen das so, doch sie wissen auch, dass das Kind, dass Martina, nicht um die Künstlichkeit weiß. Sie weiß nicht, dass sie gefilmt wird, dass die Eltern sie vermarkten, ihren kindlichen Charme ausbeuten, dass sie inzwischen ein kleiner „Star“ ist. . „Für eure Kleine, die Martina, ist es nicht gestellt. Sie ist vollkommen drin. In der Szene“, argumentiert Oskar rigoros, „dafür zahlen die Leute. Für diese kleine Insel der Aufrichtigkeit, mitten in einem Meer von Bestellungen, Regieanweisungen, Fiktion.“ Und in der Tat bleibt das Geld, das Geschäft, schließlich der einzige Gesichtspunkt, der zählt. Der rasant steigende Wohlstand zeigt sich im Outfit (Kostüme: Thea Hoffmann Axthelm). Anton trägt inzwischen Lackschuhe und Westenanzug, Karin Glitzerklamotten und Colliers. Anton beerdigt seine Selbstzweifel unter dem Vorwand, das alles sei Kunst und er der Künstler, der Performer. Mit der Wohlstandsspirale dreht sich die Rechtfertigungsspirale. Und fast alles ist erlaubt. In einer Audioszene aus dem Nachbarzimmer wird Martina geohrfeigt, im nächsten Clip verlangen die Käufer, dass das Kind alle seine Spielsachen zerstört. Und Anton hat den Selbstbetrug parat: Martina hat ja exakt die gleiche Kindheit mit oder ohne Mitfilmen. Sie hat mehr Spielzeuge, wenn mehr Geld reinkommt. Alles wird eingeebnet, alles schön geredet. Nur schwer ist zu unterscheiden, was in diesem Guckkasten, durch den man hindurchsehen kann, wirkliches Leben und was Performance ist. Überall tauchen Minikameras auf: alles Private steht zur Veröffentlichung, ja zum Verkauf. Die digitale, virtuelle Welt schluckt den Alltag.
Trotz aller Einigkeit im Vermarkten „der Aufrichtigkeit“ des Kindes, durchzieht das Ganze eine latente Unzufriedenheit der Frau. Sie quälen keine Skrupel, sie ist voll Eifer, sprudelt über von neuen Ideen und würde nur zu gern mitspielen dürfen. Doch das ist „Männersache“. Ihr Anspruch auf Teilhabe am Erfolg des Mannes, auf Mitautorenschaft, spielt in einigen Szenen das Gleichberechtigungsthema nach vorn, wird aber nicht wirklich problematisiert.
Am Ende steht Anton, der selbsternannte Künstler, bis auf die hautfarbene Unterhose nackt auf der Bühne vor dem Glashaus und sinnt dem Treiben einer Hummel am Boden nach. Vielleicht die Sehnsucht, ins wirkliche Leben zurückzufinden – und sei es auch nur mit einem winzig kleinen Schritt.
Laute Marschmusik ertönt und lässt den Zuschauer betroffen zurück. Es beschleicht ihn das bedrückende Gefühl, ein Stück über Kindes-Missbrauch gesehen zu haben. Man fragt sich, was ist dran an Antons selbstbetrügerischer Behauptung, das Kind habe „die exakt gleiche Kindheit“? Was ist an diesem Familienleben „gleich“? Diese Eltern haben längst verlernt, zu unterscheiden zwischen leben und performen, zwischen Kindeswohl und Kindesausbeutung, zwischen Spiel und Manipulation, zwischen Erziehung und Internet-Performance, letztendlich: zwischen realer und virtueller Welt.
Clemens J. Setz gibt uns keine Antworten, bietet keine Analyse der Möglichkeiten und Gefahren der sozialen Medien, übt nicht Gesellschaftskritik: er beschreibt eine Situation, die möglich ist und der Regisseur Tim Egloff schließt sich dieser Berichterstattung an: er bleibt ganz nahe am Text und liefert keine zusätzliche Interpretation.
Der Text entstand als Auftragswerk für die „Frankfurter Positionen 2017“, unter dem Motto: Ich reloaded - Das Subjekt im digitalen Netz. Es ist das erste Theaterstück des für seine Prosaschriften vielfach preisgekrönten Autors (Jahrgang 1982), der es mit seinem Roman Indigo bereits 2012 auf die Short-List des Deutschen Buchpreises schaffte.
Das Mülheimer Publikum reagierte mit verhaltenem Applaus.