This Could Be Heaven, But It Is Hell
Der eiserne Vorhang in der Mülheimer Stadthalle geht runter, nicht rauf, wenn’s los geht. Nebel wallt über einer zauberhaften, geheimnisvollen Landschaft, wie wir sie wohl nie auf einer deutschen Bühne erblicken durften. Ist das der Garten Eden, in den wir hier Einblick bekommen? Vorn jagen Wildschweine; weiter hinten erkennen wir zwei griechische Statuen. Der eine, der einen Spiegel hält, ist fraglos Narziss – der andere, so wird uns Regisseur Erszan Mondtag später aufklären, soll Cicero sein. Die modernere Brillenträger-Büste sei Erszan Mondtag selbst, behaupten manche Rezensionen, aber das streitet der Regisseur vehement ab: Es handele sich um „einen Woody-Allen-Typ“. Zwischen Schlingpflanzen, Gräsern, Blumen, Trauerweiden und allerlei Schilf finden wir auch einen kleinen See. Brahms‘ Ein Deutsches Requiem ertönt – eine Musik voller Pathos, überwältigend in diesem grandiosen Bild. Krähen schrein, Wölfe heulen. Halblinks in einem Rundbogenfenster, das zu einem verfallenen Kloster gehören könnte, haben drei der vier Figuren des Stücks ihren ersten Auftritt: Tobias, Jan und Julia tragen die beliebtesten Namen für Neugeborene des Jahres 1990 in Deutschland sowie ein Adams- (respektive Evas-)Kostüm. Wohl gemerkt: Kostüm. Sie sind nicht nackt, sie sehen nur so aus in ihren Bodysuits, so wie die Trauerweiden und das Schilf nicht Trauerweiden oder Schilf sind, sondern nur so aussehen in Erszan Mondtags im Wortsinne phantastischer Bühnenmalerei und -bildhauerei. Es ist alles künstlich, wie von einem großartigen modernen Landschaftsmaler gemalt.
Aber ist diese wunderbare romantische Urwaldlandschaft und Zivilisationsüberwucherung Paradies oder Hölle? Erszan Mondtag verblüfft uns erneut: Es sei eine Großstadtbühne, sagt er. Die Statuen, die klassische Musik, später auch die stilisierten Bewegungen antiker Olympiasportler – sie stehen für das Bildungsbürgertum, auf dem unser Leben, unsere Kultur und unsere Erziehung fußen. Man werde hineingeboren in eine solchermaßen pathetisch-bildungsbürgerliche Welt, verliere sich dann in der Banalität. Diese Banalität findet sich in der Sprache der Figuren wieder, in ihren Themen, in der Art der Diskussion, bei der Belangloses oftmals in eine künstlich aufgemotzte Diskurssprache gekleidet wird. Der Text ist in der Tat… nun ja, man möchte den Mantel des Schweigens darüber decken, aber Mondtag bekräftigt diese Setzung: Ja, das sei keine Parodie, das sei genauso gedacht. Die Figuren befinden sich offensichtlich in einem Drogenrausch. So erklärt sich das phantastische Bühnenbild, so erklärt sich der später in einen endlosen, lauter und lauter werdenden Technobeat gesteigerte Soundtrack, so erklären sich die kruden Phantasien von sich zerfleischenden Hunden, so erklärt sich die mehr mechanische als lustvolle, merkwürdig geräuschlose Kopulation der Figuren, bei der die nicht beteiligten jungen Leute interessiert, aber in keiner Weise erotisiert zuschauen. Ficken in der Öffentlichkeit – das mag etwas Paradiesisches haben, aber wenn die Dialoge sich währenddessen darauf beschränken, was man am Tage anziehen soll, schlafen wir doch lieber hinter verschlossenen Türen miteinander, aber mit Konzentration auf Lust und Liebe…
Mechanisch, geradezu puppenhaft bewegen sich die Schauspieler auch ansonsten im künstlichen Höllen-Paradies, aber unterscheidbar sind sie durchaus. Sie alle sind in irgendeiner Weise aus der Gesellschaft gefallen und stehen ihr kritisch bis feindselig gegenüber, doch während Julia (Deleila Piasko) noch eine Konfliktlösung auf der Basis der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu bevorzugen scheint und Lukas Hupfelds Tobias den linken Gesellschaftsveränderer gibt, erkennt man bei Jan (Sebastian Schneider) ein radikales anarchistisches Gedankengut. Tatsächlich haben auch die Schauspieler einen großen Anteil an der Stückentwicklung gehabt, zu der man sich mehrere Wochen lang in ein Haus in der französischen Schweiz zurückgezogen hat. Zunächst einmal hat man über die Geschichte des Terrorismus geforscht und den Gedankengang verfolgt, dass Terrorismus bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nahezu immer aus der politischen Linken entstanden ist, während er heute vorwiegend religiös begründet ist oder aus rechtsradikalen Gruppierungen entspringt. Entstanden ist aber ein Stück, das vor allem den Überdruss und die Langeweile einer Generation (eines Teils einer Generation?!) an der Gesellschaft thematisiert und aufzeigt, wie die Welt daran zugrunde zu gehen droht.
Olga Bach berichtet von Textstellen, die sich tatsächlich auf konkrete terroristische Anschläge wie die Attentate im Pariser Bataclan beziehen sollen. Für das gemeine Publikum sind diese Textstellen nicht identifizierbar – zumindest hat der Rezensent die Waffen gestreckt. Weder beim Lesen noch beim Hören konnte der Text überzeugen, wobei die Akustik des im Vergleich zur Berner Original-Spielstätte deutlich größeren Mülheimer Studios die Verständlichkeit des Textes gegen Schluss arg behinderte. In der Publikumsdiskussion entspann sich ein Dialog zwischen dem Moderator und dem Regisseur, dem auf beiden Seiten zu widersprechen ist: Wer noch nie in einer Rave- oder Techno-Nacht durchgetanzt habe – egal ob auf Speed oder nicht, der könne mit dem Abend möglicherweise wenig anfangen, meinte Moderator Michael Laages. Erszan Mondtag bezweifelte diese Aussage: Gerade die älteren Menschen könnten die in der Inszenierung steckenden kulturellen Bezüge viel besser verstehen.
Einspruch, liebe Kollegen. Der Unterzeichner hat noch nie eine Rave- oder Techno-Nacht durchgetanzt, weder auf Speed noch ohne, aber er ist leider unwiderruflich zu den älteren Menschen zu zählen. Den Text fand er banal bis wirr und oftmals einfach ärgerlich – da hat er wohl vieles nicht verstanden. Die auch zum Berliner Theatertreffen 2017 eingeladene Inszenierung dagegen war faszinierend, ja: in weiten Teilen mitreißend. Der (Drogen-)Rausch des Bühnenbildes sowie die suggestiv und zwischen Pathos, Harmonie und Schmerz changierende Musik sind hinreißend und ein unerhörtes Erlebnis für Augen und Ohren, und wenn die mechanischen Kopulationen der Schauspieler übergangslos in eine faschistoide Ästhetik des Armehochreißens übergehen, wenn Jonas Grundner-Culemann eine gefährliche faschistische Führerfigur kreiert, wenn der endlose laute Technobeat einsetzt und später in Beethovens Eroica mündet, dann ist das packend und gruselig, furios und dämonisch. „Diese Gesellschaft zerfällt gerade. Oder?“ fragt Tobias den Drogendealer. Und der antwortet, als Julia sagt, sie sehe das nicht: „Das kann man auch nicht sehen … Das werden wir erst sehen, wenn es zu spät ist. So wie es immer abläuft in der Geschichte. Aber es hat schon angefangen.“
Das klingt hellsichtig, ist aber eines der wenigen tauglichen Textzitate. In Mülheim wird das beste Stück der Spielzeit ausgezeichnet. Das ist Die Vernichtung sicher nicht. Dass die Aufführung grandios ist, liegt nicht am Text und nicht an den Schauspielern. Es ist das Gesamtkunstwerk, das punktet: das Zusammenspiel aus Bühne, Choreographie und Sound. Die Vernichtung war auf dem falschen Festival. Aber danke, liebes Auswahlgremium, dass ihr sie eingeladen habt.