Mord und Totschlag im Puppenland
An der Bühnenrückwand bilden grell aufleuchtende Lichtbänder vier Kabinen, in jeder eine Gestalt mit riesigem Kopf, es könnten Puppen sein, doch dann lösen sich zwei Figuren, kommen mit marionettenhaften Trippelschritten nach vorn. Unter den riesigen Köpfen wirken die Körper jetzt kindlich und künstlich. Es könnten Mädchen sein, die eine trägt ein weißes Plisseekleidchen, darunter einen Petticoat, das Ganze erinnert an ein Ballettkostüm. Die andere Figur im gefiederten, blaugrün schimmernden Body mit Federschwänzchen erscheint indifferent daneben. Beide versuchen mit einem schwarzen Luftballon Fußball zu spielen, doch die Bewegungen sind tapsig und ungenau. Im Näherkommen werden die Kopfungetüme – geschätzt dreimal so groß wie ein Menschenkopf – genauer erkennbar: sie sind aus unzähligen Dreiecken aus Pappe zusammengefügt, wirken dadurch futuristisch-grotesk. Augen, Ohren, Mund und Haare sind aufgemalt, einem Geschlecht sind sie nicht zuzuordnen, nur die Stimmen, die über innen angebrachte Mikros ertönen, charakterisieren sie. Die Sehschlitze sind kaum zu erkennen, und wie wir später im Gespräch erfahren, sehen die Schauspieler fast nichts und bewegen sich auch deshalb notgedrungen so vorsichtig-tapsend oder minutiös-tänzerisch. Die Köpfe sind nicht Entwürfe des einfallsreichen Ausstatters Peter Schickart, sondern fertige Bausätze, die vom Ensemble selbst gefaltet wurden. Den beiden Mädchen, Baby (Anne-Marie Lux) in Weiß und Dolly (Sabine Fürst) gesellen sich zwei Männer zu, die jedoch beide nur an Baby interessiert sind: Franz (Julius Förster) als ihr Fester Freund und Jack, ihr Lover, der eher den Brutalo gibt. Wer jedoch genau hinhört, entdeckt, dass beide mit der gleichen Stimme sprechen und zum Ende des Stücks sind wir überrascht, unter Jacks Maske eine Frau zu finden. Dergleichen Verwechslungen, Irritationen und Verwirrungen durchziehen das ganze Stück und machen das Verständnis nicht eben leichter. Nach diesem eher komödiantischen Auftakt wird’s ernst: Eine bedrohliche Warnung aus dem Off lässt alle erstarren: ACHTUNG AN DIE LEUTE LONDONS SEIT EINIGER ZEIT VERSUCHT EINE GESELLSCHAFT DES VERBRECHENS LEUTE ZU ERMORDEN. Und damit ist die zweite Ebene ins Stück eingezogen: zunächst in rot-lila Ganzkörpertrikots, später in schwarzem Frack, Bowler und dunkler Gesichtsmaske taucht diese unheimliche Gruppe comichaft immer wieder unheilverkündend auf. Im Dämmerlicht von oben fächerförmlich angestrahlt, bewegt sie sich in einem irritierenden Lichtregen (Video Regina Hess) wie aus der Zeit gefallen. Eine eindrucksvolle Bebilderung dieses rassistisch mörderischen Kollektivs, das im Stück wohl für die Personifizierung der menschlichen Gesellschaft steht.
Im Text, der – wie üblich bei Anne Lepper - ohne Punkt und Komma auskommt und weithin auch in entsprechender Monotonie gesprochen wird, sind die Passagen der Gruppe, des Chores, durch Großbuchstaben deutlich vom übrigen Text abgesetzt. Und nicht nur grafisch laufen da zwei Stränge nebeneinander her. Bis zum Schluss will mir ihre inhaltliche Verknüpfung nicht einleuchten. Da hilft auch einer der vielen guten Regieeinfälle von Dominic Friedel nicht weiter, in der letzten Szene den Text des sonst dialogischen Dramas gleichsam als Textfläche zu einem Epilog zusammenzuführen und vom Chor rezitieren zu lassen.
Immer wieder unterbrochen von dieser anonymen Totschlag-Gesellschaft, in der wir alle uns ja wohl wiedererkennen sollen, spielt sich die trostlose feministische Emanzengeschichte einer scheiternden Glücksuche nach bekanntem Muster ab: Baby schickt Freund und Geliebten fort, denn „Haus und Kinder möchte ich nicht mehr und vor allem keinen echten Mann.“ Sie lässt sich vom Puppenmacher für eine Unsumme Geldes einen Puppenmann herstellen, mit dem sie verfahren kann, wie sie will. Dabei bemerkt sie nicht, dass ihr als vermeintliche Puppe ihr „echter“ Freund untergeschoben wird. Wirklich kurios an dieser Stelle die Idee der Regie, die „Puppe“ ohne Maske von Julius Förster spielen zu lassen, während die „echten“ Menschen nach wie vor ihre Puppenköpfe tragen. Herzliche Lacher erntet die Regie, als das Publikum als Puppenauswahl herhalten muss und Baby ganz reale Vor- und Nachteile benennt: der ist mir zu dick, die zu alt. Oh weh! So bleibt am Ende nur der echte Franz. Bald genügen erwartungsgemäß die Puppenleistungen der anspruchsvollen Besitzerin nicht mehr, eine zweite Puppe muss her (wiederum witzig und sinnig: Julius Förster spielt beide zugleich). Puppen kann man ausleihen und so darf auch Dolly, die ewig benachteiligte, sie benutzen, wird schwanger und dann - als Höhepunkt des Zickenkrieges - mit Kind von der Rivalin im Teich versenkt.
Da kommt einem denn doch einiges bekannt vor, und nicht nur die Handlungsversatzstücke sind entliehen, auch der Text wimmelt nur so von Zitaten (oder Plagiaten? ). Ein Detektivspiel für Literaturkenner dürfte es sein, dem Konglomerat von Fremdtexten die Autoren zuzuordnen: am Ende des Textes erscheint eine Liste mit sechzehn Namen von Horkheimer und Adorno über Hitchcock und de Sade bis Goebbels, und das sind nicht einmal alle. Auf der Bühne werden allerdings nur wenige genannt. Das Ganze ist weiß Gott schon kompliziert genug.
Das Stück wurde als ernst zu nehmende Gesellschaftskritik angekündigt und in der Tat kommt alles vor: von Antisemitismus über Genderdebatte bis zur AfD. Vergewaltigen Erschießen Ausweisen – und das in grellen Bildern höchst kompliziert durcheinandergemixt.
Ich nehme den Theaterabend als gelungene Performance mit wunderbaren Schauspielern voller blendender Ideen von Regie, Ausstattung und Lichtgestaltung, die allerdings zum Verständnis des mit Problemen überfrachteten Textes nicht immer beitragen.
Bei dem Mülheimer Dramatiker-Preis geht es allerdings um die Texte, nicht um die Inszenierungen. Da fehlt diesem Problemkonglomerat doch wohl einiges an verdichtender Gestaltung zu einem Sprachkunstwerk.