Party, Schüsse, Barrikaden
In dem engen Foyer der Halle König Ludwig 1/2 drängeln sich die Gäste. Drei Musiker des Lemon Bucket Orkestra aus Toronto spielen Blasmusik und Schlagzeug. Einen Programmzettel gebe es nicht, erfährt man an der Kasse – man solle sich einfach überraschen lassen. Unsinn, denkt man, denn andeutungsweise hat man ja bereits zugetragen bekommen, was einen erwartet. Irgendwie interaktiv solle die Show sein; man befinde sich als Zuschauer mitten im Geschehen, und es gehe relativ anarchisch zu. So ähnlich hatte sich das vorher angehört. Doch: Die Vorstellungkraft hatte nicht ausgereicht für das, was man in den folgenden 75 Minuten erlebte.
In der Mitte des Theaterraums ist eine lange Tafel gedeckt, an der Teile des Ensembles und des Publikums Platz nehmen. Es werden Borscht und Blini gereicht; eine Pianistin und ein Geiger schrammeln flinke ukrainische Volksweisen. Am Kopf der Tafel scheint eine altmodische Tapete den Raum abzuschließen, auf die am unteren Rand ein ebenso altes TV-Gerät projiziert wird. Doch der Fernsehschirm wird zum Videoscreen, der die gesamte Größe der Wand einnimmt. Auf dieser Leinwand flimmern Bilder vom Majdan, Kiews zentralem Unabhängigkeitsplatz. Es sind Bilder von der „Revolution der Würde“, wie der proeuropäisch gesinnte Teil des ukrainischen Volkes die Ereignisse des Winters 2013/14 nennt. Die Revolution begann am 21. November 2013, als die Regierung des damaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch die vorgesehene Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union aussetzte, und sie endete am 26. Februar 2014 mit der Einsetzung einer neuen Übergangsregierung unter Arsenij Jazenjuk. Eigentlich jedoch, so sagen die kanadischen Musiker und Performance-Künstler Mark und Marichka Marczyk, geht der Kampf noch weiter: im umkämpften Donbass, auf der wohl schon verlorenen Krim, in vielen Institutionen und Wirtschaftsbetrieben des Landes.
Mark Marczyk kam im Januar 2014 nach Kiew. In den Wirren des Majdan traf er seine heutige Frau Marichka, eine ukrainische Musikerin, die dort mit einem Chor auftrat. Live erlebten sie die Demonstrationen auf dem Unabhängigkeitsplatz, die später in blutige Kämpfe umschlugen: den Aufstand und die Langeweile, die Brutalität und die Willkür der Soldaten, die Solidarität der Bevölkerung, die Kälte des zentraleuropäischen Winters und die Gesänge und Tänze, mit denen sich die Demonstranten aufwärmten oder einfach nur die Zeit vertrieben. Sie erlebten Hoffnung und Euphorie, Bürgerkrieg und Gewalt. Daheim in Kanada verarbeiteten sie ihre Erlebnisse in einem Kunstwerk, das mit dem Begriff „Guerilla-Folk-Oper“ treffend beschrieben ist. Heute touren sie mit diesem Kunstwerk durch die Welt und lassen uns teilhaben an ihren Erlebnissen. Es ist fast wie ein Re-Enacting – in übersteigerter, teilweise burlesker Form. Wir alle – die anarchischen kanadischen Performer und die braven Recklinghäuser Zuschauer - bauen Barrikaden, werfen Steine und feiern ein ausgelassenes Fest. Wir flüchten vor Gewalt, stellen uns den Angreifern entgegen – und singen und essen und tanzen. Wir alle.
Denn auch diejenigen, die zunächst auf den spärlichen Zuschauerreihen an den Längswänden der Halle König Ludwig Platz genommen haben, werden bald von ihrem sicheren Refugium vertrieben. Die Revolution, die so friedlich begonnen hatte, eskaliert – anstelle der gesitteten Mahlzeit am langen Tisch (die auch schon von stampfenden behelmten Soldaten unterbrochen wird) gibt es bald den Borscht aus ramponierten Ölfässern. Auf dem Majdan treiben Bulldozer die Menschenmassen auseinander, und auf den Resten unseres Esstisches schieben parallel dazu drei düstere Gestalten einen Schneeschieber vor sich her, der aussieht wie die Schaufel des zum Kriegswerkzeug umfunktionierten Baufahrzeugs auf der Leinwand. Wir sehen junge Leute, die die Polizeikette durchbrechen wollen, und Soldaten, die mit Gummiknüppeln auf die Demonstranten losgehen. Wir werden in die hintere Ecke des Raumes getrieben. Einige von uns tragen inzwischen weiße Schafsmasken wie die meisten Performer – „Auf welcher Seite stehst du?“, heißt es, doch wir wissen es sogar von unseren Nachbarn auf dem Kampfplatz nicht, zu dem das Theater mittlerweile geworden ist. Blendgranaten werden abgefeuert – real auf dem Majdan, von den Scheinwerfern im Theater. Erste Tote und Verletzte sind zu beklagen – sie liegen vor uns auf dem Tisch.
Der nun abgebaut wird: Wir benötigen das Holz für den Barrikadenbau, bei dem wir alle mithelfen. Erneut gibt es Essen; erneut feiern wir ein ausgelassenes Fest. Und dann: werfen wir Steine – bei uns sind sie aus Schaumstoff, doch auf dem Majdan, den wir auf der Leinwand nie aus den Augen verlieren, sind sie real. Polizisten stürmen mit Elektroschockern heran; ein geradezu pathetisches Bild eines einzelnen Demonstranten vor Tausenden von Soldaten rührt uns, und bald brennen die Barrikaden. Die Kiewer Demonstranten haben sie drei Tage lang gehalten. Dann floh Viktor Janukowitsch aus dem Land.
Natürlich sind wir inzwischen selbst emotionalisiert: Den Marczyks geht es nicht um einen analytischen Blick auf das Geschehen, nicht um das politisch korrekte Aufzeigen von Zusammenhängen, sondern um Teilhabe an einem Ereignis der Zeitgeschichte, das in aufgeheizter und extrem emotionalisierter Atmosphäre eskalierte. Wir erleben, wie aus einer friedlichen Demonstration eine blutige Revolution entsteht, bei der der Staat seine eigenen Bürger angreift. Radikal nehmen die Performer die Sicht der proeuropäischen Fraktion ein. Auch ihre Art der Darstellung ist radikal neu – aber sie ist nicht aggressiv. Aggressiv wirken die Aufnahmen der Fernsehstationen und die privaten Videoaufnahmen aus dem Netz, die wir auf der Leinwand sehen. In der Wahrnehmung des Zuschauers verschmelzen die realen Bilder vom Majdan bald mit den inszenierten Bildern der Performance, in welcher wir längst zu Mitwirkenden geworden sind. Grandios werden die Bürgerkriegsbilder kontrastiert durch die permanente Live-Musik-Untermalung des Lemon Bucket Orkestras – noch in den größten Wirren auf der Bühne sitzen irgendwo Blasmusiker, Geiger oder eine Pianistin und spielen fröhliche ukrainische Volkswaisen. Die Musik des Orchesters wird meist beschreiben als eine Mischung aus Punk Rock, Klezmer, Jazz und Balkan-Gypsy-Klängen – das kann sich zwar kein Mensch vorstellen, aber über den Daumen gepeilt trifft diese Definition den Kern. In Counting Sheep“drängt der Balkan-Ukraine-Gypsy-Klezmer-Sound den Punk und Jazz in den Hintergrund; liturgische Melodien, Hymnen und ukrainische Folk Music verbinden sich zu einer eigenwilligen Partymusik, zu der glänzend getanzt, gesungen und geklatscht werden kann. Was entsteht, ist ein hinreißendes Theaterspektakel mit ungeheurem Schwung und mitreißendem Tempo, das Adrenalin freisetzt – und Lebensfreude! Auch das ist politisch nicht korrekt, aber ein großes Vergnügen.
Zum Schluss fällt der Blick zu einer traurigen Melodie auf den verwüsteten Majdan. Was von der Revolution übrig bleibt, ist eine Trümmerlandschaft. Demonstranten werden niedergeschossen – auf dem Unabhängigkeitsplatz ebenso wie in der Halle König Ludwig. Doch HELDEN STERBEN NIE, heißt das vorletzte Kapitel dieser Aufführung. Eine Leiche wird durchs Publikum getragen. Tausende von Handys und Feuerzeugen erleuchten den Majdan. Wir folgen dem Leichenzug hinter die Leinwand. Dort stehen maskierte Soldaten und Panzer. Noch ist der Krieg nicht zu Ende. Die Krim ist wohl verloren. In der Ostukraine starben nach Angaben der Vereinten Nationen vom Dezember 2016 mehr als 2000 Zivilisten bei den kriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Insgesamt hat der Ukraine-Konflikt bislang mehr als 10 000 Tote gefordert.