Die Erfindung des Trampophons
Sechs Jahre alt ist diese Produktion, und in wenigen Monaten wird sie abgespielt sein, denn die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, steht vor einem – wie sie es empfindet – „unfriendly takeover“. Soll man über eine solche alte Klamotte noch schreiben, auch wenn sie wohl zum ersten Mal in NRW gastierte? – Man sollte nicht nur: man muss. Denn die Klamotte ist hinreißend.
Eine Klamotte ist sie fürwahr, die Spanische Fliege, und jedes anspruchsvolle Theater müsste sich schämen, so ein torkelndes Boulevard-Stück auf den Spielplan zu setzen. Es ist ein Stück fürs Millowitsch- oder Ohnsorg-Theater – an beiden Häusern wurde es schon vor prustendem Publikum in den jeweiligen regionalen Dialektfassungen gespielt. Dereinst jedoch machte es auch Karriere am Broadway und im Westend. Franz Arnold und Ernst Bach, ein nur durch den frühen Tod des Letztgenannten zertrennliches Autoren-Duo, haben es im Jahre 1913 uraufgeführt, und im Jahre 1955 blamierte sich Carl Boese mit einer Filmfassung unter Missbrauch der unvergessenen Rudolf Platte und Elisabeth Flickenschildt und bestätigte sämtliche Vorurteile gegen den unsäglichen deutschen Nachkriegsfilm. Doch Herbert Fritsch, der älteste deutsche Jung-Regisseur, wie Theater heute den erst im Best Ager Alter zum Spielvogt mutierten Ex-Schauspieler einmal nannte, hat bekanntlich weder Angst vor der Blamage noch Angst vor dem Klamauk. Im Gegenteil: Er legt den Klamauk so hemmungslos frei, dass – jedenfalls im Falle der spanischen Fliege – das Autoren- und Komiker-Duo sich im Grabe umdrehen müsste: Eigentlich werden sie von A – Z verarscht.
Da nun schon Rechtsanwälte, Abgeordnete, Stadträte, Fabrikanten und ein veritabler Assyriologe in dem Stück auftreten, betrachten wir die Angelegenheit zunächst einmal rein wissenschaftlich: Bei der spanischen Fliege (lat. Cantharis versicatoria) handelt es sich um einen geflügelten Käfer aus der Familie der Ölkäfer. Sorgsam zermahlen, diente dieser schon in der Antike als Potenzmittel mit herausragender Erektionswirkung, aber geringem Luststeigerungspotential. Vulgär ausgedrückt: Man kriegt einen Dauer-Steifen, hat aber keinen Bock. So ähnlich geht es dem anspruchsvollen Zuschauer in einer Aufführung des gräulichen Theater-Schinkens: Er lacht ohne Unterlass, aber er bekommt keine Lust auf weitere solche Erfahrungen. Genau umgekehrt verhält es sich in der Inszenierung von Herbert Fritsch. Da wird nichts steif, denn die Schauspieler erweisen sich als unfassbar gelenkig, aber die Inszenierung macht Bock: Der Zuschauer bekommt Lust auf mehr.
Auf eine Nacherzählung des verwickelten Blödsinns rund um eine ehemalige Nachtklub-Tänzerin – ebenjene spanische Fliege - und deren 24jährigen Sohn, dessen Vaterschaft gleich vier honorige ältere Bürger der Stadt vor ihren Ehefrauen und dem örtlichen Sittlichkeitsverein verbergen zu müssen glauben, wollen wir verzichten. Fritsch legt auch keinen gesteigerten Wert auf eine besonders geschliffene Vermittlung des Plots. Als Zuschauer kommt man intellektuell problemlos mit, hat aber eigentlich anderes zu tun als auf die Zusammenhänge zu achten. Fritsch setzt nämlich das „s“ der spanischen Fliege in Klammern und konzentriert sich auf das, was übrigbleibt, also das Panische. Und das äußert sich nicht nur in outrierter Sprache, sondern vor allem in vollkommen exaltierter Körpersprache. Aus Betulichkeit wird ekstatischer Slapstick, aus biederem Klamauk surrealer Nonsens, aus Standbein-Spielbein-Auftritten sportliche Höchstleistungen, und aus dem, was Arnold und Bach in der damaligen Zeit möglicherweise als gewagte Witzchen verstanden, wird hysterische Blödelei. Dabei irgendwelche Schauspieler hervorzuheben, verbietet sich eigentlich, denn sie sind alle virtuos. Aber dennoch: Den sprachlichen Teil beherrscht Sophie Rois am besten, den sportlichen Wolfram Koch. Dem Ehepaar Klinke, er ein ehedem scharfer Senffabrikant, sie eine gurrende und krächzende Vorsitzende des Sittlichkeitsvereins (nicht ohne eine versteckte Erotik in der Stimme), gehören also die besten Momente.
Wolfram Koch schicken wir 2020 zu den Olympischen Spielen. Andere Medaillenkandidaten haben wir im Trampolinspringen eh nicht auf der Watchlist. Koch stolpert nicht nur virtuos über die Teppichfalte, die in doppelter Ausfertigung den vom Regisseur persönlich angerichteten Bühnenboden bedeckt, sondern er fällt auch am eindrucksvollsten in die vom Parkett aus nicht sichtbare Grube mit dem Trampolin. Tiefen Fall und federnde Wiederauferhüpfung feiert er mit den unmöglichsten Körperverrenkungen und einer Mimik, die Komik und Panik, Ernst und Lust gleichermaßen ausdrückt. Vor keiner platten Clownerie schreckt Fritschs Spaßtheater zurück: Manchmal rutscht Koch nach erfolgter Bruchlandung meterweit bäuchlings in Richtung Publikum. Jedem einzelnen Schauspieler ist ein Solo auf dem Trampolin gegönnt: Florian Anderer als Dr. Gerlach schlägt großartige Salti, und wenn Annika Meier als Dienstmädchen Marie das Sprunggerät als Tanzfläche nutzt, wirkt sie wie die Lola Montez der Kleinstädte. Das Gerät selbst ist mit einem sogenannten Trampophon ausgestattet: Sensoren messen die Sprünge und senden Signale an einen Sampler, der vorprogrammierte Soundeffekte auslöst: Unser altmodisches Stück wird also mit hochmoderner, kreativer Technik in die Moderne gejazzt. Herbert Fritsch weist stets darauf hin, dass die Erfindung des Trampophons auf seine Dramaturgin Sabrina Zwach zurückgeht, deren Namen wir daher nicht verschweigen wollen.
Sophie Rois hat, wie bereits erwähnt, die größte Variabilität in ihrem überdrehten Spiel. Sie bedient die Boulevardkomödie und veralbert sie im selben Moment. Gleichzeitig versteht sie es, in Bruchteilen von Sekunden die Stimmung kippen zu lassen. Als einzige der dreizehnköpfigen Personnage zeigt sie in winzigen Augenblicken auch eine berechnende, hinterhältige Facette. Werner Eng als Wimmer spielt effektheischend mit dem Publikum, und auch Koch plustert sich auf wie ein eitler Gockel, wenn die Zuschauer seinen akrobatischen Kunststückchen applaudieren. Inka Löwendorfs Wally wechselt aus einem bewusst unbeholfenen Slapstick unmittelbar in aufreizende Posen und dann in eine unbedarfte Romantik und macht so in einer einzigen kurzen Szene die ganze Verklemmtheit der bigotten Kleinstadt-Gesellschaft und den Wunsch der jungen Frau nach Ausbruch aus dieser Enge deutlich.
„Du weißt, wir dürfen uns nicht lächerlich machen“, sagt Hans Schenker als Reichstagsabgeordneter Burwig einmal. Herbert Fritschs genialische Kostümbildnerin Victoria Behr, die seine Inszenierungen stets mit ihren schrillbunten Kleidern und abenteuerlich hochgetürmten Frisuren ausstattet, tut alles, um Burwigs Würde zu wahren. Sie hat ihn in einen abstrusen Frack mit viel zu kurzer Krawatte gesteckt, und beide harmonieren wunderbar mit seiner altmodischen Gelehrtenbrille. Lange graue Haare lugen unterm tiefschwarzen Deckhaar hervor. Selbstverständlich besitzt Mostertfabrikant Klinke einen hässlich senffarbenen Schlips, während seine tugendhafte Gattin Emma etwas schärfere Gelbtöne zu ihrem ungebärdig in die Höhe lodernden schwarzen Haar trägt. Die Spanische Fliege, die vor 24 Jahren das Aphrodisiakum für die männliche Kleinstadt-Gesellschaft war, taucht natürlich auch noch auf – dass die kleinwüchsige Christine Urspruch, dem breiten Publikum bekannt als Alberich aus dem Münster-Tatort, dank Victoria Behrs Perückenbaukunst die gleiche Größe erreicht wie alle übrigen Schauspieler, ist in der Theaterwelt inzwischen legendär. Vor 24 Jahren mag bei der Spanischen Fliege was anderes erotisch gewackelt haben – heute ist es ein blonder Haarturm von epischen Dimensionen.
Zwei Stunden lang feiern wir frei von allen intellektuellen Anstrengungen ein „Fest der hysterischen Blödelei“, wie es der SPIEGEL in seiner Premierenrezension genannt hat. Nie haben wir dabei das Gefühl, uns unter Niveau zu amüsieren, denn die opulente Ansammlung alberner und skurriler Ideen ist so doof, dass sie schon wieder intelligent ist. Manchmal scheint es, als wäre jede blöde Idee, die das Ensemble während der Probenzeit einmal hatte, umgesetzt worden – aber stets wurde sie zuvor dem perfekten anarchischen Rhythmus dieser Inszenierung angepasst. Wir lachen uns tot – und staunen.