Fremd im Kabelwald
Der Kampf des Negers und der Hunde spielt sich auf einer französischen Baustelle in Afrika ab. Ein Auslandseinsatz auf einer Baustelle in der afrikanischen Provinz dürfte kaum weniger vergnügungssteuerpflichtig sein als einst ein unfreiwilliger Aufenthalt auf der Sträflingsinsel in Guyana. Bei Bernard-Marie Koltès wird die Tristesse des Platzes dadurch verstärkt, dass die Baustelle vor der Auflösung steht. Horn denkt an seine Pensionierung und hat sich mit der jungen Léone schon mal eine Gespielin einfliegen lassen, der er vage Heiratsversprechen gemacht hat; Cal steht vor einer unsicheren Zukunft. Horn und Cal ertränken ihren Frust und ihre Langeweile im Alkohol. Im Halbdunkel des Urwaldes, am Rande der Baustelle, taucht Alboury auf. Ein Einheimischer, der seinen „Bruder“ wiederhaben möchte. Die Leiche seines Bruders genaugenommen.
Cal hat nämlich einen einheimischen Arbeiter erschossen. Die Herausgabe der Leiche gestaltet sich als nachgerade unmöglich, denn Cal hat sie in der Latrine versenkt – einer veritablen Freiluft-Latrine, die in den afrikanischen Morast mündet. Von Baustellenleiter Horn erhält Cal in seinem Dilemma nur solange Unterstützung, wie er mit dubiosen Geschichten über einen LKW-Unfall den Mord vertuschen und mit Bestechungsgeldern den Einheimischen ruhig stellen zu können glaubt. Als dies misslingt, gerät Cal in Panik. Derweil wirft sich Léone in naiver Afrika-Begeisterung Alboury an den Hals und bietet sich als erotisches Objekt der Begierde an. Vergeblich ist auch das. Bevor die Lage endgültig zu eskalieren droht, beschließt Horn ein tödliches Ende. Das kommt anders als erwartet.
Hat Bernard-Marie Koltès also einen Krimi geschrieben? Möglicherweise einen Afrika-Krimi mit Lokalkolorit? Man sträubt sich, das zu sagen, obwohl sowohl Krimihandlung als auch Afrika-Klischees in seinem Drama vorherrschen. Aber: Spannend wie ein Krimi wird diese Geschichte nicht erzählt. Spannend sind die Konflikt-Konstellationen und die Denk- und Handlungsweisen der Figuren, die Koltès ausstellt und die sich grundsätzlich, wie der Autor betont, an jedem Ort der Welt abspielen könnten: „… kleinbürgerliche Dramen…, wie sie im sechzehnten Arrondissement passieren könnten“. Denn es gehe weniger um die kulturelle Fremdheit als vielmehr um Unsicherheit und Einsamkeit, die ebenfalls ein Fremdheitsgefühl hervorrufen können. Und doch kommt man allen gegenteiligen Beteuerungen des Autors zum Trotz an der Afrika-Komponente nicht vorbei. Denn Koltès hat seinem Drama auch die abgegriffene Geschichte vom verwahrlosten Europäer und dem edlen Wilden eingeschrieben und das Metaphernartige dieser Geschichte gut versteckt. Regisseur Roger Vontobel inszeniert am Schauspielhaus Bochum ein Drama über die Fremdheit. Er schafft Angsträume, die auf eine distanzierende, symbolische Weise mit afrikanischen Klischees spielen; er schafft psychologische Situationen, die selbst in Anbetracht der Notlage, in der sich die Figuren befinden, merkwürdige Blüten treiben und tatsächlich oftmals mit Unsicherheit und Einsamkeit erklärbar sind. Vontobel steht dazu ein herausragendes Team aus Schauspielern, Musikern und Bühnenbildner zur Verfügung.
Der Angstraum erschließt sich bereits früh. Theaterscheinwerfer unterteilen die Bühne exakt in der Mitte parallel zur Rampe in eine helle und eine dunkle Seite. Vorn markiert eine einfache Möblierung mit Stuhl, Kühlbox und Ventilator die Baustelle und den Lebensraum der Franzosen, hinten liegt – von den Scheinwerfern unbeleuchtet - der Urwald. Der ist ein Meisterwerk des Bühnenbildners Fabian Wendling: Graue Schläuche und Kabel, wie man sie wohl auch auf einer Baustelle finden könnte, winden sich zu einem undurchdringlichen Geflecht von Schlingpflanzen, ranken sich hoch zu einem exotischen Baum. Oft wabert Dunst durch die dunkle Bühnenskulptur: Wir glauben, die humide Luft des Waldes zu spüren. Die Schlingen und Knoten dieses Schlauch- und Kabelwaldes könnten sich jedoch auch im Gehirn der Figuren befinden …
Am Rande dieses Waldes, meist gerade noch im Dunkeln, steht geduldig wartend, erhaben über die kleinbürgerlichen Streitereien der Franzosen, manchmal auch wie lauernd: Alboury, der schwarze Mann. Jana Schulz gibt ihn, schwarz gekleidet, aber kalkweiß geschminkt – eine Frau, androgyn in ihrer Erscheinung, aber mit einer hellen, vielleicht für diese abgeklärte, souveräne Figur ein wenig zu mädchenhafte Stimme. Doch diese Stimme kann auch Atmosphäre gestalten: Wenn sie singt, wenn sie gurrt, teilt sich uns das Geheimnisvolle der Figur und der afrikanischen Umgebung besonders intensiv mit und wir spüren die Spannung, die durch das Fremde entsteht. Dafür stehen nicht nur die Lieder, sondern der gesamte Soundtrack des auf der Bühne live musizierenden Matthias Herrmann. Töne produziert er, die unseren Alpträumen entsprungen sein könnten – und die doch für den Abenteuerlustigen auch einen geheimnisvollen Sog entwickeln. Wenn da nicht immer wieder diese Störer wären, die die Panik und die Bedrohung der Figuren zu versinnbildlichen scheinen oder auch den Cultural Gap, der immer wieder zwischen Franzosen und Einheimischen deutlich wird...
Großartig wird diese Fremdheit zwischen den Denkweisen und Kulturen Albourys und der Franzosen inszeniert. Jana Schulz macht, wie so oft, einen tollen Job. Sie spielt zurückhaltender als gewohnt, spießt mit wenigen Sätzen die Unterschiede zwischen den klaren Strukturen des dörflichen afrikanischen (Aber-)Glaubens und der Verwahrlosung der Bürokratie auf. Der Ordnungsbegriff des französischen Bauleiters, den Werner Wölbern in weißem Hemd und Anzug mit schwarzem Einstecktuch wie eine zynische Version des Tchibo-Kaffee-Experten gibt, ist der eines verantwortungslosen Kapitalisten: Ordnung muss sein – „Alles, was zählt, ist die Firma“, wird er gegen Ende sagen. Das schließt Betrug und Verbrechen ein. Seine Utopie von einem aufstrebenden Frankreich und einem „leeren“ Afrika, in dem niemand mehr Hunger leidet, zeugt von einem derart ethnozentrischen Denkansatz, dass eine ordentliche Personalabteilung seine mangelnde Eignung für einen Auslandseinsatz frühzeitig hätte erkennen müssen. Alboury dagegen könnte man den gegenteiligen Satz in den Mund legen: „Alles, was zählt, ist das Dorf“, scheint die Devise zu sein, die er verkörpert. Überzeugend spielen die vier höchst unterschiedlichen Charaktere die kulturelle Differenz zwischen dem im Glauben, im Dorf und in der Familie gefestigten Alboury und den halt- und orientierungslosen, allenfalls sich an fehlinterpretierten extrinsischen Zielen orientierenden Franzosen heraus.
Ähnlich charismatisch wie Schulz den Alboury verkörpert, gibt Luana Velis die hübsche, zarte Léone. Allerdings ist diese der krasse Gegenentwurf zur Figur des Alboury: naiv, unbedarft, abenteuerlustig und voller unrealistischer Vorstellungen über das Leben in Afrika. Ausgerechnet bei Alboury, dem Fremden, glaubt sie sich geborgen, denn dieser Mann strahlt die Sicherheit und innere Ruhe aus, die die drei Franzosen nicht haben. Der Afrikaner ist die einzige Figur, die in sich selbst zu Hause ist. Léone fehlt sowohl ein inneres wie auch ein äußeres Zuhause, doch genau das ist es, wonach sie sich sehnt. Insofern beruht ihre merkwürdig schnell aufflammende Liebe zu Alboury auf einer Projektion. Wie sich Léone Alboury mit entblößtem Oberkörper anbietet, wie sie ihre Brüste schwarz färbt – das ist ein Bild der Verzweiflung, der inneren Leere, der Sehnsucht, des untauglichen und erfolglosen Versuchs, in einer fremden Welt die innere Balance zu finden.
Ihr Landsmann Cal erscheint Léone deutlich unheimlicher als der geheimnisvolle Alboury - und so, wie Max Mayer den Cal verkörpert, hat sie recht. Cal wird an dem cultural gap, an der Fremdheit, die ihn umgibt, verrückt. Schauspielerisch ist der irrlichternde Mayer, manchmal auf dem schmalen Grat zur Karikatur wandelnd, der Star des Abends, als Figur ist sein Cal auf keinerlei geradem Pfad unterwegs. Selbstmitleid und Gewalt, Erniedrigung und Aggressivität, Rassismus und nackte Angst führen zu erratischem Handeln. Sein Kriegspfad gegen die Einheimischen ist ebenso wirr wie seine Suche nach Sicherheit und Identität.
Da die kulturelle Differenz nicht überwunden werden kann und die Europäer die Sicherheit verloren haben, wird die Situation am Ende eskalieren. Ein Feuerwerk bricht los, das Horn eigentlich für Léone organisiert hat. Es wird zu Blitz und Donner und Gewehrfeuer. Es fordert eine weitere Leiche. Vontobel inszeniert die Metapher, die in Koltès‘ Stück steckt. Cal ist nur derjenige, der am weitesten fortgeschritten ist auf dem Weg in den Untergang. Wenn man die Inszenierung zu Ende denkt, fürchtet man, dass weitere folgen werden. Die müssen nicht unbedingt auf der Bühne stehen oder im Stück vorkommen…