Hexenjagd im Schauspielhaus Düsseldorf

Der Aufstand eines Einzelnen gegen eine Welt, die verrückt spielt

Beim Einlass ist die Bühne hell erleuchtet: ein Raum in drei Ebenen geteilt, Boden und Wände grau-weiß gekachelt, eine Halle, in der geschlachtet oder obduziert werden könnte.

Auf der oberen Etage, die über eine Sprossenleiter, wie wir sie aus Schwimmbecken kennen, zu erreichen ist, steht ein abgenutztes weißes Metallbett, vielleicht ein Krankenhausbett, darauf liegt ein junges Mädchen, regungslos.

Plötzlich Donnerschläge, schrille Töne, Licht aus und wieder an: vier Mädchen in weißen Flatterhemdchen und eine bizarre Männerfigur in langer schwarzer Soutane umstehen das Bett und versuchen, die Erstarrte zu beleben. Wir erfahren, was geschah: Die fünf Mädchen wurden vom puritanisch verklemmten Dorfpfarrer Parris (Thomas Wittmann) überrascht, als sie im Wald womöglich nackt ums Feuer tanzten. Das Mädchen im Bett ist Betty (Cennet Rüya Voß), die Tochter des Pastors, die sich aus Angst vor Strafe in eine Hysterie flüchtet. Zur Wortführerin schwingt sich ihre Cousine Abigail (Tabea Bettin) auf, die in der Düsseldorfer Aufführung mit einem Buckel verunstaltet ist, aber nicht nur diesen Makel kompensieren muss, sondern die Chance sieht, sich für ihre verschmähte Liebe nach einer Affäre mit ihrem Dienstherren zu rächen. Der Regisseur Evgeny Titov setzt ganz auf die Kraft der einzelnen Figuren und der Dialoge. Er gibt sie typisierend, doch nie überzeichnet. Dabei verzichtet er völlig auf die umfänglichen auktorialen Zwischentexte, die Arthur Miller immer wieder - in übertrieben aufklärerischer Intension - einfügt. Gleich zu Beginn, noch vor dem ersten Dialog, lässt der Autor den allwissenden Erzähler in einem dreiseitigen Prosatext die politischen Zusammenhänge und ideologisch verbrämten Charaktere kommentieren und bewerten. Das alles braucht die intensive und äußerst präzise Inszenierung Titovs nicht. Er und sein exzellentes Ensemble setzen im Spiel plausible, entschlüsselnde Zeichen und kraftvolle Bilder.

Die theokratisch durchorganisierte und ideologisierte Gemeinde, die sofort Teufelswerk wittert, wird durch wenige, klar gezeichnete Figuren überzeugend in ihrem Wahn und ihrer Raffsucht entlarvt. Der einzige, der sich der Mechanik der Massen- und Verfolgungshysterie entgegenstellt, ist der aufgeklärte Bauer John Proctor (Sebastian Tessenow), der aber keineswegs als heldenhafter Widerstandskämpfer erscheint, sondern durch persönliche Probleme und seine zunächst verheimlichte Liebesaffäre angeschlagen, verunsichert und dennoch zutiefst glaubwürdig bleibt. Herzzerreißend die Szene, in der er und seine hochschwangere Frau Elizabeth (Judith Bohle) - jeder an einem Ende des völlig verwüsteten Bühnenraumes an eine Kette gefesselt –  vergeblich versuchen, zueinanderzukommen. Drastisch und alptraumhaft dagegen der Moment, als ein echter Rindskadaver vom Bühnenhimmel auf die Fliesen knallt und die Frau endlos in den blutigen Eingeweiden wühlt. (Das Rind als mythisches Symbol für Fruchtbarkeit und Mutterschaft weist auf die Schlussszene hin, in der bei Elizabeth die Geburt einsetzt.)

Das alles spielt sich im Bühnenraum ab, in dem nach der Pause die Gerichtsverhandlung ihren makabren Lauf nimmt. Atemberaubend die Szene in Text und Bild: Vier Mädchen – die wahrhaften Hexen! – sitzen da in hochgeschlossen Kleidern wie brave Nonnen-Internats-Schülerinnen - alles schwarz und weiß - als glaubhafte Zeuginnen, während die Fünfte, Tituba, eine schwarze Sklavin (Bianca Twagiramungu), als einzige als Hexe verurteilt, sich halbnackt in einer entfernten Ecke der Bühne angstvoll krümmt.

In der letzten Szene wird der Henker sie vergewaltigen, bevor er sie in einem schwarzen Müllsack erstickt. Die inzwischen völlig verwahrloste Bühne wird dann bis zur Decke mit diesen schwarzen Säcken gefüllt sein. Ein surreales Bild für Mord und Verwüstung, für die Aushebelung jeder Rechtsstaatlichkeit. Richter, Pastor, Henker und Ex-Exorzist irren derangiert, verlottert zwischen den Trümmern ihres Wahns umher und bleiben, trotz besseren Wissens, bei ihren Fehlurteilen: „Die Stimme des Himmels spricht aus diesen Mädchen“. „Aufhängen!“ Die Stimme der Vernunft wird weggeleugnet. Proctor wird sterben. Seine Frau erhält auf Grund der Kindsgeburt eine Galgenfrist.

Arthur Miller schrieb das Stück Hexenjagd 1953, zur Zeit der Kommunistenjagd der McCarthy-Ära in den USA. Zweifellos war es als kritischer Kommentar zum Zeitgeschehen gemeint, spielt jedoch im Jahr 1692 in der kleinen Stadt Salem im heutigen Massachusetts. Miller beruft sich dabei auf ein tatsächliches Ereignis: Ort, Zeit und sogar die Namen der handelnden Personen sind authentisch. In einer dem Stücktext vorangestellten „Bemerkung zur historischen Genauigkeit des Stückes“ erklärt er, dass „der dramatische Zweck es erforderte, manchmal aus mehreren Charakteren einen zu machen“. Als Quellen dienten ihm Briefe, Gerichtsprotokolle und Pamphlete aus der Zeit. Das Stück zeigt am Beispiel der Hexenverfolgung in der frühen Neuzeit, wie Angst, Denunziation, Massenwahn und Machtmissbrauch zu allen Zeiten Verheerendes anrichten. Aber auch, wie ein Einzelner zur Symbolfigur für den aufgeklärten, argumentativ kämpfenden Widerstand werden kann. Wie eine Bestätigung seiner These erscheint die Tatsache, dass Miller auf Grund seines sozialen Engagements und seiner Gesellschaftskritik 1956 selbst ins Visier des McCarthyismus geriet und schließlich, als er sich weigerte, die Teilnehmer eines kommunistischen Schriftstellerkongresses zu benennen, 1957 wegen „Missachtung des Kongresses“ zu einer Gefängnis- und Geldstrafe sowie Entzug des Passes verurteilt wurde.

Miller schafft mit Hexenjagd eine zeitlose Parabel über die Mechanik einer Massen- und Verfolgungshysterie, wenn aus einem an sich harmlosen Spuk pubertierender Mädchen im bigotten, scheinheiligen Puritanismus einer Kleinstadt ein Hexenkessel wird. Um von persönlicher Schuld abzulenken, werden dabei bedrohliches Teufelswerk und Hexenzauber beschworen, wobei sich der fundamentalistische Wahn mit persönlichen Ressentiments und boshaften Beschuldigungen verquickt. „Lang unterdrückter Hass konnte nun offen ausgedrückt und Rache genommen werden“ und „man konnte seinen Nachbarn der Hexerei bezichtigen und sich dabei im Recht fühlen. Alte Rechnungen konnten auf der Ebene eines himmlischen Kampfes zwischen Gott und Luzifer beglichen werden, “ so Miller im 1. Akt im auktorialen Zwischentext.

Ein Schelm, wer da nicht an heutige Konflikte und Gotteskriege denkt!