Übrigens …

Umständliche Rettung im Schauspiel Essen

Biologin in Gomorra

Die Spielfläche mutet an wie eine Mikro-Ausgabe der Sinterterrassen von Pamukkale. Es könnte eine Kalksteinterrasse sein, vielleicht auch nur der trockene, lehmige Boden in einem regenarmen Land. Dahinter blicken wir durch zwei Türen in ein Warenlager mit Ölfässern, Klopapier und Getränkekisten. Es gehört zu einem dieser in von Armut geprägten asiatischen Ländern typischen engen Läden – genau genommen zu zwei Läden: einer Metzgerei und einem Schnapsgeschäft. Wir befinden uns in der fiktiven Stadt Sodiryia westlich des Jordans. Irgendwo dort lag einst auch das von Gott zerstörte Sodom. In der Tat erzählt die Schweizer Dramatikerin Martina Clavadetscher in ihrem Stück Umständliche Rettung, das im Jahr 2016 mit dem Preis der Essener Autorentage ausgezeichnet wurde, eine moderne Version des alten biblischen Mythos von Sodom und Gomorra. Wie in der alttestamentarischen Geschichte wundert man sich manchmal über die dahinterliegende Moral. Gegen die muckt sogar die Hure Baganja auf. Aber dazu später.

Sodiryia ist ein Moloch von Stadt, ein verdrecktes, stinkendes Monstrum, „die Luft ein überhitztes Gebläse, in dem selbst die Vögelchen zu Schmorbraten werden.“ Ihre Bürger sind im Übermaß konsumfreudig und Öko-Sünder erster Güte – um es mit Botho Strauß zu sagen: Ihretwegen steige Müll und Verwesung empor, und an den Wänden mögen Reste von trockenen Broten hängen. Aus diesem Sodom und Gomorra lernen wir zwei Einwohner kennen: Die brave („zufriedene“) Hure Baganja, deren Mutter ein Firmenerbe zugunsten eines einfachen Prostituierten-Daseins ausgeschlagen hat, und den verderbten Ladeninhaber Hinom El-Arad, einen Alkoholiker und Mörder, der einst mehr oder weniger lustvoll seine Töchter begattet hat. Dass ihm dazu nicht mehr einfällt als ein wütendes, selbstmitleidiges „Sie haben es ja gewollt“, tun wir zunächst als die übliche empörende Reaktion des Triebtäters ab, bis dass uns einfällt, dass auch Lots Töchter ihren alten Vater besoffen gemacht haben, um anschließend per inzestuösem Beischlaf mit ihm die Geschlechter der Moabiter und Ammoniter zu zeugen. Außerdem treffen wir in Sodiryia die westeuropäische Mikrobiologin Yamila Hanna Bach, die eigentlich nur Pilze und Bakterien sammeln will. Ihr Name weist auf eine Herkunft aus zwei Kulturen hin, Silvia Weiskopfs extrem blasser Teint verortet sie in Essen allerdings deutlich im nordischen Kulturraum. Zu guter Letzt gibt es einen Untersuchungsrichter, der immer wieder die merkwürdige Geschichte hinterfragt, die Clavadetscher und die Hure Baganja uns an diesem Abend erzählen.

Denn ausgerechnet die verkopfte Naturwissenschaftlerin gerät ins Zentrum einer übersinnlichen Geschichte. Immer wieder trifft Yamila in Sodiryia auf denselben Mann: ebenjenen El-Arad. Er ist der Metzger und der Schnapshändler, sie trifft ihn im Kino und auf dem Blumenmarkt – und irgendwann sehen sie sich sogar als irgendwie unfreiwillige Darsteller in einer Comedy-Vorabendserie im Fernsehen wieder. Mehr und mehr bekommt die Geschichte märchenhafte Züge; Baganja erklärt Yamila zum Engel, der die Stadt retten soll und versehentlich den unmoralischen El-Arad zum Subjekt ihrer Rettungsversuche erkoren hat und nicht die moralische Nutte. Baganjas apokalyptische Visionen für die Stadt münden in der Möglichkeit einer Rettung durch Engel, „die ihre Füße am Boden halten“ – und siehe: Die rationale Naturwissenschaftlerin, die solch eine spirituelle Bestimmung vehement abstreitet, schwebt bald engelsgleich ungefähr einen Meter über dem Bühnenboden durch die Essener Casa - eingewickelt in ein Tuch, schlafend, vielleicht auch träumend, doch weit davon entfernt, die irdischen Verstrickungen lösen zu wollen, die die El-Arad und Co. zum Stillstand zwingen. Schneeflocken fallen vom Himmel über dem Jordanland, und am Ende passiert, was eben passiert in Sodom und Gomorra: Es regnet Schwefel und Feuer hinab auf die Stadt. Menschenmassen fliehen aus Sodiryia, und El-Arad wiederum flieht mit Yamila vor der Masse, die, wie er glaubt, die beiden „zerstückeln und… zerreißen“ will. Die Erde bebt, ein Grollen wird immer lauter, und aus den Vulkanen fließen Natriumsalze. Eine alkalische Flut rollt den Jordan hinab. Neugier und Forscherdrang der Naturwissenschaftlerin sind größer als der Glaube an übersinnliche Botschaften: Entgegen der Warnung ihres Begleiters wagt Yamila den Blick zurück. Prompt erstarrt sie zur Salzsäule, während Johnny Cash die Apokalypse und den strafenden Gott besingt: „There's a man going around taking names / And he decides who to free and who to blame…“. Die Welt ist ungerecht: El-Arad wird gerettet, nicht gerichtet; Baganja aber schminkt sich und erwartet den dritten Feuerball. Und der naturwissenschaftliche Engel ist tot.

Regisseur Thomas Ladwig erzählt am Schauspiel Essen eine zwar merkwürdige, aber faszinierende Geschichte mit einem ungewöhnlichen Sujet und einer wunderbar schwebenden Atmosphäre. Geschickt spielt Ladwig – im Einklang mit der Autorin – auch mit den Mitteln der Ironie, die jedoch vor allem dazu dient, die Poesie der Sprache und das Übersinnliche der Geschichte vor dem Absturz in die Esoterik zu bewahren. Ladwig erzählt mit einfachen Mitteln, findet aber immer wieder zu stimmungsvollen Bildern wie dem Flug der Wissenschaftlerin in ihrem zuvor als Zelt genutzten Tuch. Hervorragend gelingt dem Essener Ensemble die Figurenzeichnung. Silvia Weiskopf ist der ein wenig blutleere, angeblich an Eisenmangel leidende Engel wider Willen, der ins Übersinnliche abgleiten muss - mit der Naturwissenschaft lässt sich Gott nicht beikommen. Jan Pröhl gibt den moralisch fragwürdigen El-Arad lange Zeit über als machohaften, etwas primitiven Hünen, deutet jedoch früh an, dass auch in ihm ein guter Kern stecken könnte. Jaëla Carlina Probst ist die sympathische, aber mehr und mehr durchgeknallte Hure in Hotpants, deren Moralbegriffe uns durchaus nachvollziehbar erscheinen. Aber so normal wie ihr Moralbegriff ist auch ihr wenig altruistischer Überlebenswille, der für christliche Nächstenliebe nicht allzu viel Raum lässt. Baganja ist über weite Strecken auch die Erzählerin der Geschichte, doch Jens Winterstein als unerschütterlicher, leidenschaftsloser Untersuchungsrichter verurteilt sie irgendwann einfach zum Verschwinden aus der Geschichte und übernimmt die Erzähler-Rolle kurzerhand selbst. Mit sonorer Stimme, ohne große Emotionen berichtet er vom Untergang der Stadt. 

Fast schon ein wenig aufdringlich wird das Parabelhafte der Geschichte betont: Vor dem Haus El-Arads wird sogar ein Schild mit dem (unvollständigen, weil einem TV-Rätsel entsprungenen) Wort „Parabel“ aufgestellt. Worauf diese allerdings zielt, bleibt ein wenig im Clair-obscur. Feuer und Schwefel fallen heute tatsächlich wieder herab auf manche unglückliche Stadt im Jordanland; rationale Lösungskonzepte scheitern ebenso wie religiös fundierte Erlösungsphantasien. Andererseits zeigt die Geschichte aber auch unmissverständlich auf, dass Rettung nicht unbedingt erlangt, wer vordergründig ein moralisches Leben führt. Insofern formuliert Clavadetscher in ihrem Stück auch ihren Pessimismus und eine gewisse Ratlosigkeit. Dem Zuschauer bietet ihr Stück reichlich Diskussionsstoff.