Geächtet im Theater Münster

Amir - eine intensive Charakterstudie

Da trifft aber wirklich alles Konfliktpotenzial aufeinander, das wir uns vorstellen können: ein Anwalt mit pakistanisch-muslimischen Wurzeln ist verheiratet mit einer protestantisch geprägten weißen Künstlerin. Das Paar lädt die afroamerikanische Kollegin des Anwalts und deren Mann, einen jüdischen Kunstkenner, zum Essen ein. Alle meinen, ihre Wurzeln überwunden und Teile einer liberalen US-Multikulti-Gesellschaft zu sein.

Mal ehrlich, jeder der diese Exposition zu Ayad Akhtars Drama Geächtet zur Kenntnis nimmt, denkt an eine Satire oder an den hemmungslosen Gebrauch eines Holzhammers. – so geballt werden Problemberge angehäuft. Tatsächlich stellt sich Geächtet heraus als mit Konflikten sehr engmaschig ausgestattetes Drama, das Fragen der Identitätssuche genauso berührt wie Loyalitätsfragen zu Religion, ethnischer Herkunft oder Verankerung im westlich-demokratischen Gesellschaftssystem. Gleichberechtigung, sexuelle Selbstbestimmung der Frau, Seilschaften im Arbeitsleben... Alles Dinge, die zumindest angerissen werden. Da fehlt natürlich auch der radikalisierte (um das Modewort zu benutzen) Neffe nicht. Das ist dicht, sehr dicht, vielleicht sogar viel zu dicht. Vielleicht kann es auch nur oberflächlich sein. Das ist möglich. Über das Stück kann man ganz gewiss trefflich diskutieren. Es streift sicher eher aktuelle Debatten ohne nachhaltig zu sein.

Diskutieren kann man aber ganz gewiss nicht über die szenische und darstellerische Umsetzung von Geächtet am Theater Münster. Da blieben keine Wünsche offen und Christina Paulhofers Inszenierung reißt strudelartig hinein in das Seelenleben der Protagonisten. In Bernhard Niechotz’ schickem Loft residiert Amir, der Anwalt, und glaubt alles richtig gemacht zu haben. Er hat sich befreit von seinen muslimischen Wurzeln, sich angepasst ans liberale Amerika und hat deshalb in seiner Kanzlei reüssiert. Wie überheblich und von Unverständnis geprägt ist seine Reaktion auf seinen Neffen, der sich unverstanden fühlt und sich besinnt auf seine Religion. Um so härter trifft es Amir, als sein Lebensentwurf wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Da überflügelt ihn die Kollegin in der Kanzlei – wahrscheinlich wegen seines muslimischen Hintergrunds – und seine Frau hat ihn mit dem Kunstkenner betrogen.

Amir rastet aus, wirft alles über Bord, vergewaltigt seine Frau... und steht einsam da, in seinen Grundfesten erschüttert.

Paulhofer konzentriert sich ganz auf Amir, entwickelt die anderen Figuren aus ihrem Verhältnis zu ihm heraus und nutzt die Musik Sylvain Jacques’ als gliederndes Element. Und sie stellt klugerweise nicht aktuelle Bezüge und gesellschaftspolitische Fragestellungen in den Mittelpunkt ihrer Inszenierung. Ihr ist es um die menschliche Tragödie eines Mannes zu tun, der wie einst Hiob Stück für Stück aller Gewissheiten in seinem Leben beraubt wird.

Dafür hat sie in Jonas Riemer einen perfekten Darsteller gefunden. Es ist beklemmend, ergreifend zu sehen, ja zu spüren, mit welch’ Hingabe Riemer sich in Amir versenkt und schonungslos dessen Psyche Stück für Stück entblättert.

Da bleiben den Anderen vordergründig nur Sekundantenrollen. Die aber werden hervorragend gestaltet. Denn keiner kommt ungeschoren davon und Blessuren für das weitere Leben werden zurückbleiben. Immer stiller und zurückhaltender wird Claudia Hübschmann als Amirs Frau. Sprachlich-intellektuelle Überlegenheit weicht völliger Fassungslosigkeit nach der Vergewaltigung. Hübschmann zeigt, was der Terminus „eine gebrochene“ Frau bedeutet. Christoph Rinke als Kurator Isaac und Natalja Joselewitsch als Anwältin Jory müssen erfahren, wie es ist, wenn glatte Lebensplanung Risse bekommt, die erschüttern. Und Garry Fischmann als Abe versteht sich und die Welt um ihn herum immer weniger.

Das Publikum erlebt ein intensives Gefühlsinferno.