Antigone auf dem Weg ins Nirgendwo
Im Schweizerischen Chur erblickte sie 1948 erstmals das Licht der Bühnenwelt. Das dürfte aber auch das Erstaunlichste an der mythisch-antiken Geschichte sein, die Bertolt Brecht seinerzeit ins Heute zwingen wollte. Keine Geringere als Sophokles‘ Antigone, zudem noch in der Version Hölderlins, nahm er in die Mangel seiner Lehrstück-Dramaturgie, um zu „beweisen“, dass nicht das Schicksal als übergeordnete Distanz den Menschen vernichtet, sondern der sich selbst. Ob es dazu der Bearbeitung des Sophokles bedurfte, darf bezweifelt werden.
Als letzte Premiere der diesjährigen Ruhrfestspiele ging Brechts Die Antigone des Sophokles auf Recklinghausens „Grünem Hügel“ über die Bretter. In einer Koproduktion, bei dem das Theater Heidelberg eine führende Rolle spielt. Dessen Chefdramaturg Jürgen Popig war ebenso mit von der Partie wie Regisseur Bernhard Eusterschulte von der Stuttgarter TARTproduktion, zudem Schauspieler aus Rumänien, vom Neckar und aus Luxembourg. Aufmerken lässt vor allem, dass ein seit seligen k.u.k-Zeiten ungewöhnliches Theater mit dabei ist: das „Deutsche Staatstheater Temeswar“. Banater Schwaben sorgten einst für die kulturellen Bindungen an die alte Heimat. 1753 erstmals als deutschsprachiges Theater erwähnt, nach wirren Zeiten 1875 neu eröffnet, 24 Jahre später erneut geschlossen, um 1953 glanzvoll wieder in der Bühnenwelt aufzutauchen. Mit Deutsch als Sprache aller Produktionen.
Man erinnert sich: Sophokles‘ Antigone, die entgegen dem Verbot König Kreons ihren Bruder Polyneikes, der als Vaterlandsverräter gilt, heimlich bestatten ließ, löst damit eine Staatskrise aus. Aus dem Bekenntnis zur Humanität erwächst eine Tragödie, die für alle den Tod bedeutet - für Antigone, für Kreons um Ausgleich bemühte Gattin Eurydike und für den König selbst. Beide, Antigone und Kreon, in der Gewissheit, nach göttlichem Recht gehandelt zu haben.
Brecht verbiegt Hölderlins Nachdichtung des Sophokles-Dramas zu einem ganz eigenen Drama, fern der attischen Tragödie. Es gerät zu einem Lehrstück. So ist Kreon bei ihm zum ausbeuterischen Diktator mutiert. Man schreibt den März des Jahres 1945, Berlin liegt in den letzten Kriegszuckungen. Zwei Schwestern, darin Sophokles‘ Personal aufnehmend, haben eine Bombardierung überlebt. Ihr Bruder, deutscher Soldat und dem klassischen Polyneikes nachempfunden, wird als Deserteur von der SS in den Straßen Berlins erhängt. Antigone wächst zur Widerstandskämpferin heran, wenn sie, entgegen dem willkürlichen SS-Todesurteil, ihren Bruder vom Galgen zu schneiden gedenkt.
Würde man von alledem in der deutsch-rumänischen Produktion doch wenigstens etwas ahnen. Chaotisch beginnt es. Sieben Personen langweilen sich, motzen sich an, warten auf irgendetwas. Ein roter Sessel, ein abgewracktes Klavier, Matratzen. Und ein Punchingball, auf dem in großen Lettern POLYNEIKES steht. Die Spielfläche wirkt wie eine kleine Müllhalde.
Erst allmählich bekommen die in billigster Alltagsmontur steckenden Akteure, die sich wohl zu einer Probe zusammengefunden haben, Gesichter, entwickeln Charaktere. Antigone (Oana Vidoni), groß und dunkel, wächst als erste zu der Figur heran, die ihren toten Bruder entgegen dem Verbot Kreons mit Erde bedecken will. Neben ihr ist Schwester Ismene (Olga Török) ein bunter Vogel, der seine Schwingen nach dem Winde wendet. Und Kreon (Nickel Bösenberg) geht es vor allem um Landbesitz. Als dem Thebaner-König ein Krieg gegen das goldbesitzende Argos verloren geht, ist seine Zeit vorbei. Damit reißt er zugleich sein ganzes Land in den Untergang: „So fällt jetzt Theben. Und fallen soll es, soll’s mit mir“, sind seine letzten Worte. Da blitzt für einen kurzen Moment die von Brecht angestrebte Parallele zum Deutschland kurz vor Kriegsende 1945 auf.
Doch insgesamt bewegt sich die Inszenierung von Bernhard Eusterschulte zu sehr im Ungefähren, Unbestimmten. Kaum ein Gedanke wird wirklich deutlich, kaum eine Szene oder ein Bild eindrucksvoll. Immerhin versöhnen einige wenige Dialog-Szenen, lassen ein wenig Spannung aufkommen. Wenn sich Hämon (Steffen Gangloff), Kreons Lieblingssohn, leidenschaftlich zu Antigone bekennt; wenn Teresias (Germain Wagner) dem König ins Gewissen redet und ihn mahnt, „keiner im Kriege weiß, was er behält. Sei’s Silber, seien’s Söhne, sei’s die Macht“.
Verloren haben schließlich (fast) alle. Nur Ismene, die sich stets aus allen Entscheidungen rausgewunden hat, triumphiert am Ende: Sie thront, wie ein Versprechen auf eine ungewisse, meinungslose Zukunft, im Schlussbild auf dem roten Sessel. Die einzige Überlebende: ein Wesen ohne Meinung und Werte. Ein Brecht-Stück, das wenig überzeugt; in einer Produktion, die es zudem nie schafft, dieser Schwäche etwas entgegenzusetzen. Gleichwohl viel Applaus nach 85 Minuten.