Übrigens …

Das Mädchen mit dem Fingerhut im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Fremd im Wirtschaftswunderland

Da ist dieses Mädchen. Das Mädchen, das nicht spricht. Es wird in den Laden von Bogdan geschickt, steht dort vor der Theke und spricht nicht. Bogdan gibt ihm zu essen und zu trinken, und das Mädchen isst und trinkt. Aber es spricht nicht. Bogdans erster Kunde sagt: Du musst die Polizei holen. „Da schrie das Kind.“

Kaum hat Thorsten Hierse in der Recklinghäuser Halle König Ludwig zu erzählen begonnen, hat uns die Inszenierung von Alexander Riemenschneider schon gepackt. Es ist die Sprache, der gediegene, einfach wirkende und doch so kunstvoll komponierte und poetische Text von Michael Köhlmeier, der uns so schnell gefangen nimmt. Es ist die ungewöhnliche, lange Zeit rätselhaft bleibende Flüchtlingsgeschichte – eine Geschichte von drei Kindern, die wie aus dem Nichts kommend in eine fremde Stadt geworfen werden. Und es ist die suggestive, ebenfalls poetisch-rätselhafte und dunkle Musik des elektronischen Cellos von Tobias Vethake. Mit einem kleinen Ensemble vom Deutschen Theater Berlin bringt Riemenschneider in Recklinghausen den Roman Das Mädchen mit dem Fingerhut zur Uraufführung.

Weiß geschminkt, stehen Vethake, Hierse und Kotti Yun nebeneinander auf der Bühne und sprechen den Text, performen die Musik in drei bereitstehende Mikrofone. Es ist keineswegs so, dass Kotti Yun das Mädchen mit dem Fingerhut spielt und die Jungs ihren… soll man sagen: Freund Arian und den deutlich älteren, nämlich vierzehnjährigen Schamhan. Die drei wechseln die Rollen, spielen den Roman meist in der 3. Person. Ihre Bewegungen sind spärlich; nur manchmal reißt es den Erzähler oder die Erzählerin zu ausladenden Gesten hin. Im einzigen Moment, in dem die Kinder einmal so etwas wie Glück empfinden, gibt es eine temperamentvolle Pantomime, fast so etwas wie eine Tanzchoreographie. Wir erleben kein Dialogstück, sondern wir erleben ein Fest der Sprache – und der Veredelung einer ohnehin schon sehr perfekt gesetzten Sprache durch Vethakes Elektrosound.

Seinen Namen kennt das Mädchen nicht. Irgendwie ergibt es sich, dass man sie Yiza nennt. Wo Yiza, Arian und Schamhan herkommen, wissen wir nicht. Im Polizeiauto wird die sechsjährige Yiza in ein Heim für unbegleitete Flüchtlingskinder gebracht, wo sie den vierzehnjährigen Schamhan und den kleinen Arian, der älter ist als sie, aber jünger als Schamhan, kennenlernt. Schamhan ist der erste und einzige Mensch, den Yiza treffen wird, der ihre Sprache spricht. Arian spricht weder ihre Sprache noch die des Landes, in das die drei geworfen wurden. Die Sprachlosigkeit untereinander und die Fähigkeit der Kinder, sie zu überwinden, sowie die Sprachlosigkeit gegenüber der Außenwelt und die Unfähigkeit beider Seiten, sie zu überwinden, spielen eine große Rolle in Köhlmeiers und Riemenschneiders Erzählung. Schamhan, Arian und Yiza flüchten erneut. Sie irren durch die winterliche Stadt, verstecken sich des Nachts im Wald und suchen tagsüber nach Essen. Sie betteln, sie sammeln, sie stehlen. Doch nicht ihr Lebenskampf, der nur durch Kleinkriminalität der Strafunmündigen bestritten werden kann, steht im Vordergrund der Erzählung, sondern ihre Solidarität – und ihr emotionsloser, weder anklagender noch verwunderter Blick auf die Welt, in der sie sich durchschlagen müssen. Diese Welt ist keineswegs offen rassistisch, aber „die Menschen mögen Kinder nicht, die Augenbrauen haben wie du“, sagt Schamhan einmal. Augenbrauen – immer wieder steht dieser Begriff für die Fremdheit der Kinder, die den Erwachsenen Angst macht, die sie unsicher werden und auf Distanz gehen lässt. Arian macht einmal sogar ein kleines Experiment: Als die Kinder erkrankt sind, bettelt er mit verdeckten Augenbrauen um Aspirin – und erhält verhältnismäßig großzügige Spenden. Als er mit verdeckten Augenbrauen ohne die Erwähnung von Aspirin bettelt, erhält er nur noch zehn Prozent des Betrages. Und als er seine Augenbrauen zeigt, nimmt er gerade einmal zwanzig Cent ein. – Ist das realistisch? – Ja, wahrscheinlich ist es das. Ist das Rassismus? – Man mag das Alltagsrassismus nennen. Die Menschen würden es abstreiten – sie handeln aus einem widersprüchlichen Gefühl heraus: aus Mitleid mit dem Kranken, aus Angst vor dem Fremden. Die Kinder nehmen es hin, und richten ihr Verhalten daran aus.

Auch vor der Polizei müssten die Kinder eigentlich keine Angst haben – die tut ihren Job, ist aber im Grunde gleichgültig. Fürsorge? Fehlanzeige. Aggressivität der Ordnungsmacht? Aber nein. Lösungsorientierung? Fehlanzeige. Ablehnung der Flüchtlingskinder? Nein, eigentlich nicht – die Flüchtlingskinder stellen eine von vielen Aufgaben im Polizisten-Alltag dar. Um die soziale Komponente mögen sich andere kümmern. Wahrscheinlich sind die Polizisten froh, als Arian und Yiza erneut flüchten, nachdem sie sie nach einem Einbruch in ein Privathaus festgenommen haben. Schamhan, der gerade die Solidarität aufgekündigt hatte und Yiza zurücklassen wollte, scheitert bei der Flucht. Liegt eine Moral in diesem Scheitern? Nein, es ist der Lauf der Dinge. Köhlmeier klagt nicht an, er moralisiert nicht, er schildert nur. Und diese lakonische Schilderung ist Anklage genug. Aber sie ist auch illusionslos. Das erste Wort, das Arian in Shamhans und Yizas Sprache lernt, heißt: „Nichts“.

Yiza wird irgendwann von Renate in ihrem Gewächshaus gefunden, in dem sie mit Arian Schutz vor der Kälte sucht. Renate nimmt Yiza auf, pflegt sie gesund, gibt ihr Nahrung, Kleidung und Spielzeug. Eigentlich könnte Yiza sich glücklich schätzen. Doch Yiza ist erneut in Gefangenschaft geraten. Auch Renate verfolgt nur ihre eigene Agenda: Sie benutzt Yiza als ihre eigene Puppe, zur Befriedigung ihres Bedürfnisses nach Nähe, nach Gutmenschentum vielleicht auch. Renate erweist sich als besitzergreifend; unabhängig davon, ob das Mädchen bereits reif dafür ist, versucht sie, Yiza ihre eigene Lebensweise überzustülpen, und versteckt sie vor der Außenwelt. Doch Arian wird seine Freundin suchen. Die Geschichte endet mit einem Mord – einem Mord, der aus Fremdheit resultiert und aus einem Nichtverstehen, das nicht nur sprachlicher Natur ist.

„Yiza ist ein Liebling“, hatte Schamhan zu Arian gesagt. „Du und ich, wir sind kein Liebling“. Arian und Schamhan sind zu alt, um Lieblinge zu sein. Arian bewegt sich schon mit der Vorsicht eines kriminellen Kids. Er, Schamhan und Yiza sind vielen gleichgültigen Menschen begegnet – und einer ganzen Reihe wohlmeinender. Niemand wollte ihnen Böses. Doch man hat einander nicht verstanden, und man hat einander nicht vertraut. Die Sozialprognose für die Kinder ist mau.  Arian nimmt Yiza mit zu seinen Freunden. „Die Freunde, das sind eine Horde von Zerlumpten, die zu alt sind für Mitleid und Rührung.“

Alexander Riemenschneider hat Köhlmeiers knapp 140 Seiten kurzen Roman ein wenig eingekürzt, ansonsten aber nahezu unverändert auf die Bühne gebracht. Der Text ist vielschichtig. Es handelt sich um ein Märchen – und wie viele Märchen hat es kein Happyend. Es ist eine Geschichte über Flucht und Heimatlosigkeit, über Sprache und Sprachlosigkeit. Und es ist eine hauchzarte Liebesgeschichte zwischen zwei Kindern. Ihr Inhalt ist aufwühlend, doch er wird mit ungeheuer viel Poesie erzählt. Tobias Vethakes Musik und Peter Grahns Lichtregie illustrieren die Erzählung; die Musik verstärkt zudem die Wirkung von Köhlmeiers einfacher, aber präziser Sprache und trägt zu dem perfekten Rhythmus der Inszenierung bei. Man vergisst, dass die drei Figuren auf der Bühne wenig miteinander interagieren und selten mehr als mit Gesten und Blicken miteinander sprechen: Man sieht die Bilder der Landschaft und der Stadt an sich vorbeiziehen, der Häuser, in denen die Kinder sich aufwärmen, der Mülltonne, in der sie nach Essen und wärmender Kleidung suchen. Vor dem geistigen Auge läuft ein Film vorbei, obwohl die Mittel von Riemenschneiders Inszenierung auf den ersten Blick so einfach erscheinen wie Köhlmeiers Sprache. Beide – der Text und die Inszenierung – sind perfekt gebaut.