Seuchenwoche in Recklinghausen
Wenn man vom Wohnort des Rezensenten nach Recklinghausen fährt, kommt man am Stadion des FC Schalke 04 vorbei. Dort wissen sie, wie das ist, wenn man die Pest hat. Eine hochdotierte, vielversprechende Mannschaft bringt viel zu oft ihre PS nicht auf die Straße. In der abgelaufenen Spielzeit war‘s mal wieder besonders arg.
Irgendwie scheint die Schalker Pest Anfang Juni ins Festspielhaus nach Recklinghausen geschwappt zu sein. Auch dort trat in drei aufeinanderfolgenden Premieren jeweils eine vielversprechende Mannschaft an. Regisseur Tom Kühnel hatte vor zwei Jahren mit der zirzensischen Heiner-Müller-Revolutionsrevue Der Auftrag (siehe hier) eine der kreativsten Aufführungen der Festspiel-Saison 2015 erarbeitet. Andreas Kriegenburg ist für einige der glückhaftesten Theatermomente verantwortlich, die der Rezensent in den mehr als 40 Jahren seit seiner Initiation als Theater-Freak durch Peter Zadek erlebt hat. Philipp Löhle wiederum müsste man ab und zu die Ohren lang ziehen ob seiner ein wenig oberflächlich daherkommenden Stückchen, in denen die Komödie oft die gesellschaftskritische Grundierung zu überdecken droht. Aber meistens amüsiert man sich ganz prächtig. Den größten Hit landete Löhle ausgerechnet bei den Ruhrfestspielen: Das Ding, uraufgeführt von Jan Philipp Gloger bei den Festspielen 2011, geriet zu einer atemberaubend konstruierten, ungeheuer temporeichen globalisierungskritischen Verstrickung und brachte dem Autor viele neue Fans ein. Mittwoch Kühnel, Donnerstag Löhle, Freitag Kriegenburg – das versprach eine tolle Theaterwoche. Stattdessen kam man zu der Schlussfolgerung, man hätte sich besser eine Dauerkarte für Schalke 04 gekauft.
1917 – eine Revolutionsveralberung von Tom Kühnel
Oft haben wir das reichlich biedere, allen Experimenten abholde Recklinghäuser Publikum gescholten. Aber doof ist das nicht: Die Recklinghäuser hatten was gerochen. Merkwürdig leer ist das Theater Marl, als das Schauspiel Hannover zu seinem dreistündigen Singspiel über die Russische Revolution anhebt. Regisseur Kühnel hat den Begriff „Revue“ ernst gemeint, ist sie aber nicht ernsthaft angegangen. Er wusste, dass albern lustig sein kann, aber er vergaß, dass im Theater nichts schwieriger zu inszenieren ist als eine gute Komödie. Einen Jux will er sich machen: In den ersten gut sechzig Minuten konzentriert Kühnel sich auf die Vorgeschichte der russischen Revolution, zeigt einen debil-feigen Nikolai II. und einen sexgeilen Rasputin, der sich im Bett der Zarengattin breitgemacht hat, und will uns wohl den Untergang des Zarenreiches als Resultat einer dekadenten, verweichlichten Gesellschaft verkaufen. Die ganze Personnage singt „Ra Ra Rasputin“, allerdings mit anderem Text und manchmal auch anderer Melodie, „Imagine“ und manch anderes schönes Lied. Dummerweise singt es auch alles andere: jede Menge banaler ungereimter Texte. Einige stammen angeblich von intelligenten Menschen wie Trotzki oder Slavoj Zizek; vorwiegend sind sie aber wohl literarische Erzeugnisse vom Zurichter dieses Abends selbst. Gesungen wird alles, gesprochen so gut wie nichts. Leider aber können viele von Kühnels Schauspieler gar nicht singen. Oder sollen sie etwa nicht können? Findet Kühnel auch das Katzengejammer lustig? Der Verdacht liegt nahe.
Die ausgiebig für blöd verkauften Figuren agieren meist vor hübsch ironischen Video-Prospekten, die das Zarenschloss darstellen oder eine hübsche Landpartie oder was auch immer. Die sexuellen Ausschweifungen werden uns in gezeichneten Karikaturen vorgeführt - ein bisschen drastisch, aber eben ein bisschen nur, weil erstens durch die Zeichnungen abgemildert und zweitens eine erkennbare Scheu vor der Provokation des Publikums besteht. Das wäre witzig, wenn auch das Spiel auf der Bühne witzig wäre oder Schärfe hätte. Zur Peinlichkeit geraten die Videos von einem gemütlich die Vorgänge kommentierenden Lenin nebst Frau Nadeshda auf einer Schweizer Alm. Dort futtern sie Käsefondue und parlieren in einem furchtbar unechten russischen Akzent. Ihre Harmlosigkeit würde meine im Vorschulalter befindlichen Enkel schon langweilen.
Kurz vor der Pause wird dann endlich musikfrei geredet und auch ein ganz klein wenig provoziert. Philippe Goos entert die Bühne und stellt sich als John Reed vor, den Autor des mächtig von der sozialistischen Utopie vernebelten Romans Zehn Tage, die die Welt erschütterten. Er resümiert nicht nur seinen Roman, sondern auch seine ganze Ideologie, und radebrecht in angloamerikanischem Slang. Auch das ist albern, aber nicht ganz so schlimm wie die falsch singenden Schauspieler. Die ersten Wochen nach der Revolution verkörperten die einzige Zeit in der Geschichte, in der eine wahrhafte Demokratie des Volkes geherrscht habe, doziert Goos unter dem Jubel einer versprengten Schar ewig Vorgestriger im oberen Parkett. Dass die erfolgreichen Revolutionäre erstmal ein paar Jahre lang mordend und marodierend übers Land gezogen sind, hat Reed-Goos verdrängt. Aber das macht nichts, das haben die alten 68er ja alle getan.
Der Rezensent, ohne Rezensionsauftrag und nunmehr auch ohne Rezensionswillen, verließ in der Pause fluchtartig die Stätte des Geschehens. Ein Drittel der wenigen Zuschauer schloss sich ihm an. Die Rezensionen der Hannoveraner Uraufführung, leider erst nach dem Besuch der Aufführung gelesen, legen die Vermutung nahe, dass er den schwächeren Teil der Aufführung, aber auch die schmissigeren Songs verpasst hat. „Speramus meliora“, sagte sich der Schreiber dieser Zeilen, tröstete sich mit der nächtlichen Vollendung seiner Rezension zu der gelungenen Ruhrfestspiele-Uraufführung von Köhlmeiers Mädchen mit dem Fingerhut und reiste am Folgetag zu Philipp Löhle.
Dämmerschlaf im Schlaraffenland: Die Hamburger Kammerspiele verharmlosen Löhle
Speramus meliora? Ja, am Tag darauf wurde es besser. Aber es wurde nicht gut. Philipp Löhles Schlaraffenland, entstanden als Auftragswerk für das Theater Basel und dortselbst exakt vor vier Wochen in der Regie von Claudia Bauer uraufgeführt, ist immerhin ein richtiges Stück. Und zwar ein typisch Löhlesches: Auf der Grundlage einer munteren Komödie äußert der Dramatiker milde Sozialkritik. Man kann sogar darüber streiten, wie milde diese Sozialkritik tatsächlich ist: Am Ende dreht Löhles Protagonist mächtig auf, fährt aggressive Attacken und steht kurz vor dem Suizid. Und er hat einen tatsächlich nachdenklich machenden Monolog, der sich direkt ans Publikum richtet. Der Junge - nennen wir ihn „Sohn“, denn diese Rolle hat er innerhalb der Familie - ist allerdings ziemlich durchgeknallt in seinem plötzlichen Weltverbesserungs- und Öko-Wahn. Da Löhle alles andere als ein verbissener Autor ist, darf vermutet werden, dass er das darin zum Ausdruck kommende alternative Lebensmodell für genauso verfehlt hält wie das der Schlaraffenland-Eltern, bei denen „Sohn“ eine glückliche Kindheit und Jugend erlebt hat.
Löhle macht sich nämlich durchaus intelligent und unterhaltsam über die heutige bionadesatte, ökosozial angehauchte Wohlstandsgesellschaft lustig, die doch vor allem von egoistischen Partikularinteressen gesteuert ist. Autobiographisch sei sein Stück, behauptet der Dramatiker ironisch - also darf man vermuten, dass auch er in dem Schlaraffenland groß geworden ist, in dem Sohnes Familie lebt und in dem kein Wunsch unerfüllt blieb: nicht der nach materiellen Gütern (Trampolin, iPhone, Mountainbike, Neuwagen), nicht der nach Verschönerung (die Wohnung wird immer größer, die Preisschilder hängen noch an den Kostümen der Schauspieler), nicht der nach sexueller Erfüllung (wenn Mutter neue Brüste kriegt, kann sich die minderjährige Tochter gleich welche mitbestellen, während Papa ein tolles Sixpack und eine Penisverlängerung kauft), nicht der nach Sterbehilfe. Wobei Letztere nicht auf Wunsch der sterbenden Großmutter, sondern auf Wunsch der lebensfrohen Familie gewährt wird - ganz nach dem Motto: herzlos, aber lustig. Negative Vorkommnisse werden blitzschnell umgedeutet in Lebensglück - und Löhles Glück ist, dass er all das mit flotter Feder zu Papier bringen kann. Dennoch schleichen sich schon früh Redundanzen ein.
Doch dann bricht der Schlaraffenmann durch die Wand der wachsenden Familien-Behausung - sichtbar nur für den Sohn und sein Recklinghäuser Auditorium. Das schwarze Heinzelmännchen konfrontiert den Sohn mit der Wirklichkeit: „Da draußen arbeitet ein Riesenapparat, damit du alles haben kannst, was du dir wünscht.“ Prompt geht Sohn unter die Weltverbesserer. Der Schlaraffenmann hat ihm offenbar die Wahrheit über Wiesenhof und kik eingetrichtert und sein Umweltbewusstsein mächtig aufgepumpt. Folglich fordert er mit zunehmender Radikalität Eier von glücklichen Hühnern und ökologische Landwirtschaft à la Prinz Charles, und auf ein gemeinsames Urlaubsziel kann man sich schon gar nicht mehr einigen, „weil immer einer verliert“. Geht die Entwicklung also vom Schlaraffenland zur Selbstgeißelung? Nein, schlimmer: Sohn mutiert zu einer Mischung aus Fundamentalisten und Hooligans. Ganz lustig ist das alles natürlich immer noch, denn der Text ist ja von Löhle.
Aber der wird im dritten Teil plötzlich grundsätzlich. Es bleibe das Bedürfnis, irgendwo anzustoßen, was jedoch nicht gelinge in einer Gesellschaft, in der „anything goes“, stellt „Sohn“ sinngemäß fest. Es wird eine Anklage unserer Medienwelt einschließlich der Verfügbarkeit aller Daten, Bilder und Provokationen formuliert. Damit erreicht die Inszenierung den einzigen Moment an diesem Abend, der wirklich nachdenklich macht: Was wirklich aufrüttele und im Gedächtnis bleibe, seien nur noch die krassesten aller Bilder: Nine Eleven, die Terroranschläge von Paris oder Manchester. „Ist das nicht peinlich, dass man so weit gehen muss? In den Fanatismus?“, fragt „Sohn“. „Der Terror hat erreicht, was das ganze Öko-Gelaber nicht hingekriegt hat.“
Da ist was dran. Unserer Abstumpfung sollten wir uns immer wieder mal bewusst werden. Allerdings gelingt es Henning Bocks Inszenierung und dem Team der Hamburger Kammerspiele zu keinem Zeitpunkt, diesen Bewusstwerdungsprozess anzustoßen. Auch Schlaraffenland wirkt - wie viele der jüngsten Löhle-Stücke - reichlich boulevardesk. Löhle verfügt über eine fulminante Sprachbeherrschung und ein exzellentes Rüstzeug für einen guten Komödienschreiber; manchmal gelingen dem Autor geniale Sprach- und Wortspiele, die zwar nicht den Biss von Elfriede Jelinek haben, aber in ihren besten Momenten an das assoziative Polit- und Gesellschaftskabarett eines Dieter Nuhr erinnern. Jedoch gelingt dem Team zu keinem Zeitpunkt die Vermittlung eines echten Anliegens. Uninspiriert und viel zu lang spult der Text ab; immer neue Beispiele, die die Denkweise des Öko-Revoluzzers oder zuvor die Lebensweise im Schlaraffenland illustrieren sollen, werden angeführt. Nichts davon ist dem langsam dem Dämmerschlaf anheimfallenden Zuschauer neu; nichts wird in überraschende neue Denkzusammenhänge gebracht. Die schon vor der Pause zu beobachtenden Redundanzen nehmen im inhaltlich eigentlich gehaltvolleren zweiten Teil bedenklich zu. Da werden Argumente zerkaut und offene Türen eingerannt; da wird Allgemeingut diskutiert und problematisiert. Auch die Schauspieler wirken wenig inspiriert und bieten biedere Boulevard-Kost – mit Ausnahme von Oliver Warsitz als Onkel, der die Ironie des Stückes in Mimik, Gestik und Sprachmodulation überzeugend zu transportieren vermag. Jakob Matschenz hat den meisten Text zu schultern und macht immerhin eine dreimalige Verwandlung seines Charakters durch – er bleibt in Erinnerung. Die übrigen Darsteller vermögen dem Stück nicht auf die Sprünge zu verhelfen.
Löhle muss man, damit er auf der Bühne funktioniert, in maximal eineinhalb Stunden erzählen – mit Tempo, scharfer Zunge und Biss. Man muss den Esprit, der in der Sprache liegt, zum Klingen bringen, und darf die Gesellschaftskritik nicht vordergründigen Lachern opfern (was die Hamburger allerdings auch nicht tun). Das ist nicht immer einfach. Aber auch Philipp Löhle sollte sich fragen, warum seine Stücke immer häufiger auf dem Boulevard landen. Er sollte daraus seine Konsequenzen ziehen – oder auch nicht, denn vielleicht bringt der Boulevard ja mehr Tantiemen. Es wäre schade, wenn der vielversprechende Jung-Autor von Das Ding und Genannt Gospodin im Status des Talents stecken bliebe.
Hysterische Karikaturen laden zur Hochzeit: Herr Kriegenburg versenkt Elias Canetti
Leider war Löhles Schlaraffenland schon der Höhepunkt der Woche. Es war ein kraftloser Höhepunkt mit einer kraftlosen Inszenierung. Kraftlos ist der Canetti-Abend des vom Schreiber dieser Zeilen sehr verehrten Regisseurs Andreas Kriegenburg nicht. Aber seine Kraft geht vollständig ins Leere. Dabei beginnt der Abend durchaus inspiriert – nämlich so, wie Tom Kühnel vor zwei Jahren seinen Auftrag inszeniert hatte: Der längst verstorbene Dramatiker trägt seinen Text selber vor. Vom Band natürlich – und im Falle von Canettis Hochzeit nur in Ausschnitten, während Heiner Müller seinen Auftrag nahezu vollständig rezitiert hatte. Wie einst bei Müller denkt man, dass Canetti vielleicht nicht der beste Interpret seiner eigenen Texte ist, aber die weiche, dialektgefärbte Stimme weckt, obwohl schwer verständlich, Interesse und man spürt die Ironie, die Canetti seinen Worten unterlegt. Obwohl: Ist „Ironie“ der richtige Ausdruck zur Kennzeichnung dieses merkwürdigen Stückes, das im Jahre 1932 wohl als zutiefst moralische Anklage gegen die verrohenden Sitten der damaligen Gesellschaft und als Warnung vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus gemeint war?
Turbulent und erbarmungslos führt Canetti in seinem Drama vor, was er angreift: eine Gesellschaft, die alle moralischen Maßstäbe verloren hat und sich von nichts als ihrer Gier und ihrer unmäßigen Geilheit leiten lässt. Auf einer Hochzeitsgesellschaft wird gesoffen nach allen Regeln der Kunst. Die Schwiegermutter will unbedingt den Bräutigam vögeln; der ist gleichzeitig das obskure Objekt der Begierde der Schwägerin; ein achtzigjähriger Arzt mit dem beziehungsreichen Namen Dr. Bock ist so notgeil, dass er nach jedem Rock greift, auch wenn seine Lust sich bevorzugt an der 14jährigen Marie abarbeitet; der Apotheker will seine Frau partout an den Sargfabrikanten verhökern, aber die schmeißt sich an den sogenannten „Idealisten“ Horch heran, der permanent vor der Apokalypse warnt. Daneben wetteifern die Figuren um das Erbe der Großmutter, die blöderweise noch nicht sterben will, und kloppen sich unter dem Einsatz oder der Verweigerung ihrer sexuellen Leistungskraft um die Finanzierung von deren Haus. Ein bisschen Bigotterie ist selbstverständlich auch noch dabei, denkt man an den permanent aus der Bibel zitierenden Hausmeister und seine dem Tode ausgelieferte Gattin. „Wir glauben an die verbindende Kraft der Familie als Fundament der Gesellschaft“, heißt es zu Beginn, und das ist ein überzeugendes Statement angesichts des Gebarens der durchgeknallten Personnage.
Das ist alles ziemlich grauenvoll, aber aus anderen Gründen als erwartet. Sex, unmäßiger Alkoholkonsum und Erbschleicherei – das sind Ingredienzien des Boulevard-Theaters. Aber der Boulevard galt dem Dramatiker wohl ebenfalls als Teufelszeug, so dass er das Lustige immer auch als das Böse zu kennzeichnen bemüht ist, was ein bisschen mit dem Holzhammer gewirkt scheint. Der Moralapostel Canetti lässt am Ende die erwartete Apokalypse tatsächlich hereinbrechen: Oberbaurat Segensreichs für Stabilität und Standfestigkeit gepriesenes Hochzeitshaus bricht zusammen.
Das tut es bei Kriegenburg immerhin sehr malerisch. Schon zuvor war die verlotterte Ziegelwand hinter gedecktem Hochzeitstisch durchaus eine Show: Harald Thor hat seiner Bühne die Anmutung einer Event Location aus dem Ruhrpott verpasst. Jörg Pose als Brautvater, Oberbaurat und Mittelschulprofessor nimmt eine Entwicklung zum Faschistoiden, die die häufig in das Stück hineininterpretierte Warnung vor dem Nationalsozialismus aufnimmt und, wenn man gutwillig ist, als Hinweis auf wiedererstarkende rechtsradikale Tendenzen verstanden werden kann. Der eine oder andere Zuschauer hatte seine Freude an den Anfangsszenen, als Großmutter Nele Rosetz und Enkelin Tabitha Frehner, aufgebrezelt wie Putzfrauen und in ihrer Attitüde wie Shakespeare-Clowns, an der Rampe den Canetti-Text schreddern. Leider hat Kriegenburg aber mit dem Manuskript auch gleich die ganze Aufführung geschreddert. Das komplette sechzehnköpfige Ensemble, in dem sich einige der besten Theaterschauspieler deutscher Sprache verstecken, geht mit unerträglicher Hysterie zu Werke. Comicartige Spießer-Figuren, Strizzis und Hallodris sind kaum unterscheidbar. Was man anfangs noch als Skurrilität zu bemänteln bereit war, entpuppt sich als nichts als schrilles Gekreische, albernes Gegrapsche und unablässiges Geschnebbel. Kriegenburg versucht, dem großen Klamauk-Künstler Herbert Fritsch nachzueifern, doch stattdessen bietet er irrelevantes Ohnsorg-Theater für Freunde selten gespielter Dramatik. Da kommt es zu spät, dass Kriegenburg den Klamauk am Ende mit ein paar Aphorismen von Karl Kraus zu kontern versucht, die durchaus als Interpretationshilfe für das Stück dienen können: „Die Aufgabe der Religion: die Menschheit zu trösten, die zum Galgen geht; die Aufgabe der Politik: sie lebensüberdrüssig zu machen; die Aufgabe der Humanität: ihr die Galgenfrist abzukürzen und gleich die Henkermahlzeit zu vergiften.“ Human wäre es gewesen, angesichts des vermutlich längst vor der Premiere erkannten Scheiterns der Inszenierung auf eine Aufführung vorerst zu verzichten.
Aber so ist das eben: Manchmal muss man antreten, auch wenn man die Seuche hat. In der nächsten Spielzeit, liebe Schalker, greifen wir wieder die internationalen Plätze an. In der nächsten Spielzeit, liebe Recklinghäuser, wird der Anteil der scheiternden Inszenierungen wieder geringer sein. Wetten, dass…?