Gegen den Hass
Zwei kritische Beobachter europäischer Bedrohung und Befindlichkeit schlagen Alarm und klagen gegen den Hass, der unsere Welt terrorisiert. Elfriede Jelinek komponierte ihre Partitur Wut nach den Pariser Terroranschlägen vor zwei Jahren. Simon Stephens ließ sich für sein Stück Rage von den Silvester-Exzessen in Manchester 2016 zu seinen unappetitlichen Szenen kotzender, pissender, nach Liebe hungernder bekiffter und betrunkener Feiernder inspirieren. Regisseur Sebastian Nübling kombinierte beide Werke in seiner Inszenierung Wut/Rage für das Hamburger Thalia-Theater, um den Pulsschlag aktueller europäischer Rat- und Haltlosigkeit einzufangen.
Nicht von ungefähr nerven der stereotype Beat und schier endlos gehaltene Töne im Hintergrund wie auch das nicht enden wollende Aufwickeln der Brandwache eines Sicherheitsbandes um ein noch loderndes Feuer. Maßnahmen und Mittel der Brandwache können uns nicht schützen, nützen nichts. Sie kommen zu spät, zielen ins Leere. Verzweiflung, Wut und Zorn scheint alles zu sein, was wir dem Hass terroristischer Gewalt entgegenzusetzen haben. Da ist selbst das Feiern unter der abgefackelten Neonreklame für die große Party „Happy New Year“ nur „zum Kotzen“.
Auch Jelineks neuestes Stück war wieder für den diesjährigen Mülheimer Dramatikerpreis nominiert und wurde im Rahmen der „Mülheimer Stücke“ in der Uraufführungsinszenierung von Nicolas Stemann vom Auftraggeber Münchner Kammerspiele gezeigt. Logisch, sozusagen, dass der Regisseur das gesamte virtuos gestammelte Konvolut von Gedanken, Gefühlen und Schlüssen, gespickt mit geistreichen, mitunter provozierenden Wortspielen präsentiert. Er konterkariert es allerdings mit einer Flut theatralischer Bilder, Effekte, selbstverliebter Gags und Nachahmungen bis hin zu Pina Bauschs genialer minimalistischer Dramaturgie. Wer denn unbedingt eine Pause braucht: bitte sehr - nach ungefähr zwei Stunden gibt's Gelegenheit dazu, inklusive Strafe: auf der Bühne geht das Spektakel weiter mit mephistophelischem schwarzen Kater und so weiter.
Auf derart überbordenden, verwirrenden Aufwand kann jede Nachregie Jelinekscher Bühnenwerke - bekanntlich in Prosa verfasst im Gegensatz zu Stephens' Silvester-Szenen aus Manchester - verzichten. So extrahiert der Hamburger Regisseur Sebastian Nübling Kerngedanken des gigantischen Jelinek-Monologs und legt ihn einer Mitarbeiterin der Brandwache von Manchester in den Mund. Die grandiose Karin Neuhäuser, unter anderem in Münster auch als intelligente Regisseurin bekannt, wickelt unermüdlich das Band auf, das nach dem Abfackeln der Leuchtreklame „Happy New Year“ um den Brandort zum Schutz der Gaffer gezogen worden war und rezitiert dabei (leider am Premierenabend im großen Festspielhaus oft zu leise) relevante Passagen aus Jelineks Text. Unterbrochen wird sie von einzelnen und Grüppchen Silvester-Feiernder - ein klägliches, unappetitliches, aber doch bemitleidenswertes Häuflein von Menschen im gesellschaftlichen Abseits, die so viel Hoffnung und Vorfreude auf diesen „Feierabend“ und die Zukunft hatten. Nun sind sie wieder nur schäbige Komparsen am unteren Ende einer schlechten Weltordnung - zwischendurch immerhin antike Choristen (unverzichtbar in Jelineks gedichteter Welt), die Wahrheiten künden, Nöte und Wünsche skandieren.
Viereinhalb Stunden dauert die Münchner Inszenierung, zwei (pausenlose) die Hamburger. Jelineks immanente Wut und ihr Unbehagen am Zustand der Welt machen beide Inszenierungen deutlich. Sinnvoll theatralisch gefiltert wird ihre gestammelte Kritik nur in der Thalia-Inszenierung - trotz mancher Bedenken über die Notwendigkeit der englischen Sicht auf Silvester von 2016, auch wenn sie angesichts der jüngsten Terrorattacke in Manchester eine größere Relevanz erfährt.