Welche sind, die haben kein Glück
Dem Laurie Anderson-Fan läuft ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Da gibt es doch tatsächlich jemanden, der singt die schwierigen Kompositionen der Avantgarde-Künstlerin und Sängerin noch perfekter als es dem Original selbst gelingt. Als Kathleen Morgeneyer und Marcel Kohler „Big Science“ anstimmen, bleibt für einen Moment die Zeit stehen. Man hält den Atem an – so schön, so intensiv weht dieser schwierige Song herüber. Wir sind in Siegen, einem Inbegriff der Provinz, aber wir hören und fühlen: „Golden cities. Golden towns.“ Doch im Lied heißt es auch: „Every man for himself.“ Auch das kommt in der Aufführung des Deutschen Theaters Berlin vor, die im Siegener Apollo-Theater gastiert.
Auch der Song steht ein wenig for himself: Wie ein funkelnder Solitär wirkt das Lied, denn die Regisseurin Daniela Löffner setzt in ihrer vierstündigen Aufführung von Turgenjews im Jahre 1862 geschriebenem Roman Väter und Söhne, den sie in der Dramatisierung von Brian Friel aus dem Jahre 1997 auf die Bühne bringt, ansonsten kaum einmal auf Musik. (Wenn, dann hat die großartige Sängerin Morgeneyer fast immer einen entscheidenden Anteil daran.) Löffner setzt auch keine Soundeffekte ein, keine Videotechnik, keine choreographischen Einlagen. Wunderbare Wortspiele unterlaufen wie selbstverständlich: Löffners Inszenierung steckt voller Pointen, doch sie werden nicht effektheischend ausgestellt, sondern bescheiden unterspielt und sind dadurch umso wirkungsvoller.
Löffner inszeniert geradezu konventionell und verlässt sich ausschließlich auf ihre 13 herausragenden Schauspieler. Und die lassen den ganz nah in nur drei Zuschauerreihen rund um die Bühne platzierten Zuschauer von der ersten bis zur 240. Minute nicht aus den Fängen.
Löffner findet in Iwan Turgenjew so etwas wie den Vorläufer von Tschechow. Das liegt bei den im Vergleich zu den Romanen etwas boulevardesker geratenden Bearbeitungen durch Brian Friel durchaus nahe und war schon bei David Mouchtar-Samorais Inszenierung von Friels Turgenjew-Adaption Ein Monat auf dem Lande in der Spielzeit 1999/2000 am Theater Bonn nicht anders. Turgenjews Romane behandeln die alltäglichen Sorgen und Nöte der russischen Gesellschaft – vom Plot her könnte der Kirschgarten auch auf dem Landgut von Turgenjew gewachsen sein. Eigentlich ein Vertreter des russischen Realismus, hatte Turgenjew Einfluss auf den westeuropäischen „melancholischen Impressionismus“. Melancholisch grundiert ist Löffners Inszenierung in der Tat. Aber Väter und Söhne hat noch einen ganz anderen Schwerpunkt, den man bei Tschechow in dieser Form nicht findet, der aber Friedrich Nietzsche interessierte, als er sich mit dem Roman beschäftigte: Es ist die russische Ausprägung des Nihilismus, die im Vordergrund der Diskussionen zwischen den Söhnen einerseits und den Vätern anderseits steht: Jewegenij Bazarow, einer der beiden Protagonisten des Romans, steht für einen besonders radikalen Typus des Nihilisten, der alle Autoritäten vernichten und alle Institutionen umgestalten will und der sogar die Kunst und die Musik für irrelevant und seiner Lebensform abträglich hält. Sein Freund Arkadij Kirsanow, der ihn bewundert und zu einem dedicated follower of Bazarov‘s fashion wird, erscheint dagegen deutlich konzilianter: Versöhnlich lässt er auch den Lebensstil der älteren Generation und der Landbevölkerung gelten, den Ulrich Khuons Jewgenij in Löffners Inszenierung mit unsympathischer Härte und Arroganz bekämpft; ihm ist an harmonischen sozialen Beziehungen gelegen, und ihm wird später auch die Liebe gelingen, an der der verstockte und verbohrte, in das zerstörerische Element des Nihilismus verliebte Jewgenij scheitern wird. Die schöne reiche Witwe und Gutsbesitzerin Anna Odinzowa ist von Bazarows Intellektualität und Energie fasziniert, geht aber sicherheitshalber auf Distanz; ihre verträumte Schwester Katja wird dagegen Arkadij heiraten.
Die beiden Damen sind im Hinblick auf ihre Herkunft und ihren Lebensstil der klassische Gegenentwurf zu Jewgenijs und Arkadijs Nihilismus. Ihre hübschen, ihrer Weiblichkeit schmeichelnden Kleider stehen im Kontrast zum typisch nihilistisch-existenzialistischen Schwarz, das die beiden jungen Männer tragen. Für die Alten ist Jewgenijs und Arkadijs Nihilismus ohnehin nichts als materialistischer Blödsinn. Sie reagieren darauf mit Unverständnis – und, da sowohl der alte Kirsanow als auch der alte Bazarow harmoniebedürftig sind, mit Verdrängung und Liebe. Daniela Löffner entwickelt aus dieser Konstellation ein liebevolles, melancholisches Gesellschaftspanorama, das heute noch Aktualität zu haben scheint. Selten sah man eine derart perfekte Inszenierung: Da stimmt jeder Ton, jede Geste, jeder Blick, jeder Laufweg – und wenn an einem Ende des langen Familientisches, der die Bühnenmitte einnimmt und an dem gegessen, getrunken und diskutiert wird, sich ein Gespräch entwickelt, kann man in den Blicken, die sich die das Gespräch wie zufällig mithörenden Figuren am anderen Ende des Raumes zuwerfen, Gedanken lesen. So funktionierten die großen Tschechow-Inszenierungen von Jürgen Gosch, sein Onkel Wanja und seine Möwe, die ebenfalls am Deutschen Theater Berlin herauskamen. Langjährige Regieassistentin von Jürgen Gosch war: Daniela Löffner. Vielleicht – aber nein, das sagen wir nicht, denn es wäre ja Gotteslästerung: Vielleicht ist sie inzwischen ja noch besser als Gosch.
Die Schauspieler spielen ausnahmslos auf allerhöchstem Niveau. Sie alle agieren ungeheuer authentisch – und doch spielen sie vom ersten Auftritt an ihre unterschiedlichen Lebensphilosophien, Sehnsüchte und Beschädigungen aus, und doch werden vor allem die älteren Herrschaften sehr komödiantisch gezeichnet. Helmut Mooshammer gibt Arkadijs Vater Nikolaj als gutmütigen, etwas trottelig überforderten, aber ungeheuer liebenswürdigen Herrn – berührend geradezu ist seine Freude, als sein Sohn ihm frei von jedem Standesdünkel zur Heirat mit seiner Angestellten Fenitschka rät. Unmerklich baut Löffner eine Parallele zwischen Nikolaj und seinem Bruder Pawel einerseits und Arkadij und Jewgenij anderseits auf: Jewgenij und Pawel (Oliver Stokowski) sind die dogmatischen, härteren Figuren in den jeweiligen Männer-Paaren, Arkadij (Marcel Kohler) und Nikolaj die anpassungsbereiteren, ausgewogeneren Typen, die eine Sehnsucht nach Familie, Heimat und Harmonie in sich tragen. Bernd Stempel balanciert als Jewgenijs Vater Wasilij perfekt auf dem schmalen Grat zwischen Komik und Tragik: ein Arzt, an dem die Wissenschaft, und ein Vater, an dem das Leben vorbeigezogen sind, ohne dass er jemals mithalten konnte. So bleiben ihm nur die alten Lateiner, an denen er seine Selbstachtung aufrichten kann. Stempel ist ein komödiantisches Genie – umso erschütternder ist es zu sehen, wie er nach dem Tode Jewgenijs in sich zusammenfällt. Er ist so weich, so harmoniesüchtig - es bedarf keiner Doktorarbeit in Psychologie, um zu verstehen, warum sein Sohn sich zu einem so harten, zynischen Kerl entwickelt hat. Man begreift, was für eine tiefe Tragik in den Missverständnissen zwischen den Generationen verborgen liegt.
Barbara Schnitzler ist Wasilijs Frau und Jewgenijs Mutter. Sie wird verrückt nach der Todesnachricht, isst nichts mehr. Wir sehen den irren, leeren Blick der Arina Bazarowa, ihr irres Hühnerfüttern, ihren weinenden Zusammenbruch. Wasilij holt die Laute heraus und klimpert ein tröstendes Lied. Es ist herzzerreißend. Aber es ist nicht eine Sekunde lang kitschig. Großartig stellt Franziska Machens die analytisch-distanzierte, freundliche Überlegenheit der hübschen Witwe aus, in der sich bereits das spätere Unglück dieser Frau andeutet, die sich nicht zu ihrer Liebe zu Jewgenij zu bekennen wagt und so ungewollt an seinem mutwillig selbst herbeigeführten Diphterie-Tod mitschuldig wird. Kathleen Morgeneyer legt ihre Katja vordergründig naiv an – doch sie blickt ungeheuer tief in zwischenmenschlich-psychologische Abgründe und ist vielleicht die empathischste Figur dieser Gesellschaft.
Da sitzen sie am Ende an der Festtafel, an der die Hochzeiten gefeiert werden sollen zwischen Nikolaj und Fenitschka, zwischen Arkadij und Katja. Fröhlichkeit wird verordnet. Aber welche sind, die haben kein Glück: Arina sitzt zusammengesunken, geistig abwesend und isst nicht; Wasilij ist ausnahmsweise einmal ganz still, Anna brütet mit ausdruckslosem Gesicht vor sich hin. Ach ja: und Jewgenij ist tot. Oliver Stokowski, die konservative, eitle „Duftwolke“, wie man ihn in der Familie verspottet, zitiert den Text eines Liebesliedes - immer leiser, immer trauriger. Was für ein Familienbild! Auch das ist eine Art von Nihilismus. Die einen starten in ein neues Leben, die anderen sind innerlich abgestorben. Das Nichts in ihren Seelen. Was für ein grandioser Theaterabend!