Übrigens …

Empire im Stadthalle Mülheim

Balladen von ungewöhnlichen Menschen

„Empire“ ist der dritte Teil der „Europa-Trilogie“, die Milo Rau mit seinem International Institute of Political Murder erarbeitet hat. The Civil Wars handelte von Djihadisten, die aus dem syrischen Bürgerkrieg nach Belgien zurückkehrten und dort ihren ganz persönlichen Bürgerkrieg in ihren Familien auszufechten hatten, und The Dark Ages drehte sich um den Bosnien-Krieg, an dem drei von Raus Darstellern persönlich teilgenommen hatten. Nun, in Empire, erzählen Flüchtlinge weitgehend autobiographische Geschichten über den Verlust von Heimat, von Würde und von Familienangehörigen. Die Ästhetik aller drei Teile der Trilogie ist die gleiche: Die Darsteller erzählen in ihrer Muttersprache; ihre Gesichter werden im Großformat auf eine Leinwand übertragen, und daneben läuft die deutschsprachige Untertitelung. Stets ziehen Rau und sein dramaturgisches Team eine literarische Ebene in die autobiographischen Texte ein: Bei Civil Wars wurde auf Tschechow Bezug genommen, bei Dark Ages auf Shakespeare. Bei Empire ist es die griechische Tragödie - Medea vor allem, gegen Ende auch die Orestie mit dem heimkehrenden Agamemnon. Zwingend ist das nicht; darüber, ob die literarische Konnotation die Geschichten auf eine höhere Ebene befördert oder ihre Authentizität beschädigt, kann man streiten, aber Rau und Co. fanden es zur Beglaubigung des von ihnen vorgenommenen Transfers der ursprünglich rein autobiographischen Texte in ein künstlerisch verdichtetes, kondensiertes Format wichtig.

Die Flüchtlinge in Empire sind vor kurzer oder längerer Zeit aus ihren von Bürgerkriegen oder Diktaturen geplagten Heimatländern ausgewandert, um in demokratischen Ländern Asyl zu finden. Das Besondere an ihnen ist, dass es sich ausnahmslos um Berufsschauspieler handelt. Die vier Akteure erzählen abwechselnd in ruhigem, unaufgeregtem Ton, aber mit einer Eindringlichkeit, die den professionellen Schauspieler ahnen lässt. Ihre Geschichten sind ineinander verschachtelt, ohne indes einen Bezug zueinander zu haben. Einer erzählt, meist hören zwei zu, und einer der vier nimmt das Gesicht des Erzählers mit der Kamera auf. Ramo Ali beginnt mit einer Art Prolog. Ali ist syrischer Kurde, und er berichtet, dass er zum ersten Mal - von einer einzigen Ausnahme abgesehen - in seiner kurdischen Muttersprache auf der Bühne auftreten dürfe. Er spricht, wie sich in der Publikumsdiskussion herausstellen wird, akzentfrei Deutsch; wir aber lesen mühselig in der Übertitelung, was er uns auf Kurdisch zu sagen hat, und sind dadurch auf den Blick auf das gefilmte Abbild seines Gesichts angewiesen. Erschütternd ist das allemal, aber die fehlende Unmittelbarkeit des Blicks auf sein echtes Gesicht führt zu einer bedauerlichen Erhöhung der Distanz zu den Geschichten. Dies wird sich leider bei allen vier Schauspielern wiederholen. - Die Kulisse dieses Theaterabends ist eine Nachbildung von Alis Küche in seiner Heimatstadt Qamishli, eine saubere, kleinbürgerlich-arabische Küche, die bei aller Ärmlichkeit eine Atmosphäre von Heimeligkeit verbreitet. Eine Funktion in der Aufführung hat sie nicht.

Der zweite Syrer ist Rami Khalaf, ebenfalls ein Schauspieler, der sich Anfang dieses Jahrzehnts an Demonstrationen gegen das Assad-System in Syrien beteiligte und später nach Frankreich flüchtete. Dann ist da der Grieche Akillas Karazissis, der zur Zeit der griechischen Militärjunta in Saloniki aufwuchs, bevor er 1975 zum Studium nach „Fassbinderdeutschland“ kam. Seine Leidenszeit liegt am längsten zurück, und vielleicht ist er deshalb der humorvollste der vier Schauspieler. Er ist ein Erotiker und ehemaliger Frauenheld, witzig und vielleicht auch ein kleines bisschen selbstverliebt. Im Vergleich zu den beiden Syrern erscheinen uns die Geschichten, die er erzählt, als harmloser. Vielleicht ist das unfair, aber das Schicksal der Syrer liegt uns auch aus Gründen der Aktualität näher. - Die prominenteste Akteurin auf der Bühne ist die einzige Dame: Maia Morgenstern, rumänische Jüdin, hat in Der Blick des Odysseus des großen griechischen Film-Regisseurs und Melancholikers Theo Angelopoulos mitgewirkt und sich Hass und Shitstorms aus konservativen und religiösen Kreisen durch ihre Mitwirkung an Mel Gibsons Film Die Passion Christi zugezogen, in dem sie die Jungfrau Maria spielte. Sie selbst erlebte die Diktatur und Unterdrückung unter Ceausescu; ihre Großeltern waren im Nationalsozialismus in Auschwitz interniert.

Milo Rau hat die Erzählungen seiner Protagonisten etwas willkürlich in fünf Kapitel strukturiert, die mit „Abstammungslehre“, „Exile“, „Ballade des gewöhnlichen Menschen“, „Über das Trauern“ und „Heimkehr“ überschrieben sind. Entsprechend konzentrieren sich die in den jeweiligen Kapiteln erzählten Geschichten auf die Kindheit sowie die Lebenserfahrungen der Eltern und Großeltern, auf die Ankunft und Integration im neuen Heimatland etc. - wirklich konsequent durchgehalten wird diese Aufteilung allerdings nicht. Zunehmend gewinnt der Abend an Dringlichkeit und Atmosphäre. In einem syrischen Foltergefängnis hat ein Scherge des Regimes Fotos von allen Opfern gemacht. Später hat er die Seiten gewechselt und die Bilder der 12 000 (!) Opfer mitgenommen. Ramo Ali sucht unter diesen Bildern nun seinen verschollenen Bruder. Es ist die erschütterndste Szene des Abends, wenn die Fotos der verletzten, getöteten Folteropfer in Großaufnahme eingeblendet werden und Ali dabei von seinem Bruder erzählt. Für die Entscheidung, diese Bilder in der Aufführung zu zeigen, habe man viel Kritik einstecken müssen, wird der Dramaturg der Aufführung Stefan Bläske später sagen. Dabei ist dies die Szene, in dem die Dringlichkeit des Abends nahezu unerträglich wird. Das Mülheimer Publikum hält den Atem an – mit einer Ausnahme: Dass in diesem Moment jemand geräuschvoll sein Bonbon aus dem Papier wickeln kann, erscheint so abgebrüht wie empörend, bis dass einem bewusst wird, dass Milo Raus Vorhaben, mit seiner Trilogie auch ein Abbild der Gesellschaft von und an Europas Rändern zu schaffen, hiermit eine weitere, erschreckende Ebene bekommt…

Ist Raus Vorhaben ansonsten geglückt? Ja, wenn es sich vor allem um einen Versuch handelt, das saturierte Theaterpublikum aufzurütteln. Nein, wenn man den Abend unter den üblichen Kriterien einer Theateraufführung betrachtet. Es wird Empathie geschaffen für die Geflüchteten, es wird auf ganz unaufdringliche, aber wirksame Weise an das politische und soziale Bewusstsein des Zuschauers appelliert. Kathrin Röggla wird in ihrer Funktion als Jurorin des Mülheimer Wettbewerbs später sagen, es handele sich um eine epische Erzählung und einen kathartischen Abend, der verschiedenste Spielarten von Krieg, Gewalt und Flucht erfahrbar mache. Vielleicht ist es tatsächlich eine besondere Qualität der Aufführung, dass durch die Verflechtung von „alten“ Flucht- und Asylgeschichten aus dem Griechenland der Militär-Junta und dem Rumänien Ceausescus mit den aktuellen Fluchtbewegungen die Wahrnehmung des Zuschauers für die permanente Wiederholung solcher Krisen der Menschlichkeit geschärft wird. Maia Morgensterns Geschichte von den in Auschwitz inhaftierten jüdischen Großeltern wirft vor allem in Deutschland die Frage nach Schuld und Erbschuld auf - eine Frage, die durch die Medea-Zitate noch einmal besonders in den Fokus gerückt wird.

Den gesamten zweistündigen Abend nahezu ausschließlich durch die großformatige Übertragung der Gesichter auf eine Leinwand zu gestalten, erscheint jedoch für einen Theaterabend ein bisschen wenig, auch wenn gelegentlich ein paar Bilder von den Schauplätzen der Erzählung eingeblendet werden. Allerdings unterlegen die großartigen melancholischen Kompositionen von Eleni Karaindrou, die auch die Musik für die Filme von Theodoros Angelopoulos geschrieben hat, dem Abend immer wieder eine poetische Atmosphäre. In den Gesichtern der vier Schauspieler spiegele sich die Welt mit all ihren Widersprüchen und Gemeinsamkeiten quer über geographische und kulturelle Grenzen, behauptet das Produktions-Team. Das erscheint so hoch gegriffen wie man bei der Bebilderung der Geschichten niedrig gegriffen hat. Tatsächlich stellt sich durch den Zwang zur Betrachtung des Video-Abbilds der Gesichter eine bedauerliche Distanz zu ihren Erzählungen ein.

Dennoch entwickelt der Abend eine große Intensität. Ob es sich um Theater handelt, sei dahingestellt. Dass er in einen Stücke-Wettbewerb gehört, lässt sich nur schwer vertreten. Allerdings legen die Autoren Wert darauf, dass die Texte nach ihrer Verdichtung keineswegs mehr ausschließlich autobiographisch seien, und die Mehrheit der Schauspieler behauptet ebenfalls, dass, was man von ihnen in der Aufführung sehe, nur eine Rolle sei, die aus persönlichen Erfahrungen entwickelt worden sei: „That’s not me“, sagt Maia Morgenstern. Alle bestehen darauf, dass man das Stück auch mit anderen Schauspielern nachspielen könne. Fraglos würde dann ein ganz anderes Stück daraus. Ob es die gleiche Dringlichkeit entwickeln würde? Ob man es auf die gleiche reduzierte Weise inszenieren könnte? Das erscheint zweifelhaft, aber auf ein solches Experiment wäre man neugierig.