Eine Blutspur durch die Geschichte als komödiantischer Comic
Beim Einlass wird vorne schon gespielt: drei Männer und zwei Frauen in sportlichem Einheitsdress - schwarze Jogginghose und weißes Axelhemd - schwätzen und lachen leise miteinander, während sie mit extrem dicken Eddingstiften etwas auf unterschiedlich zugeschnittene Wellpappenstücke notieren oder zeichnen - oder beides?
Sie hocken vor einem blau glitzernden Vorhang, der einen auf zwei Stufen gesetzten Bühnenaufbau umschließt. Später werden wir sehen, dass es dahinter noch zwei weitere Vorhänge im gleichen EU-Blau gibt, die dann am Ende, wenn die Aufführung in Agitprop- oder Gebrauchstheater mündet, eine riesige Spiegelwand freigeben, in der sich das Publikum unscharf spiegelt. „Konstantin meint“, heißt es dann, und damit wir auch verstehen, dass er (der Autor) uns meint, sind wir im Bühnenbild dabei und damit gleich Doppel-Adressaten.
Doch zunächst beginnt alles witzig, geradezu clownesk: die Pappschilder zeigen in großen Lettern an, wo wir gerade sind, wer spricht oder auch, in welchem historischen oder mythischem Umfeld wir uns einzufinden haben. Und das ist wahrhaft hilfreich, denn das Stück ist eine kunstvolle Montage dreier großer Zeit- und Handlungsstränge, die intelligent ineinander geschnitten sind.
Ganz bildlich starten wir beim Brexit, indem auf einer grob auf Wellpappe skizzierten Europakarte die Insel ganz einfach durchgestrichen wird; allerdings gerät der schwungvolle Strich - sei‘s zufällig oder absichtlich - bedenklich weit aufs Festland. Schon da wird klar: ein bisschen sind wir hier im Nachhilfe-Unterricht. Im Gespräch formuliert Küspert sein Anliegen drastisch: „Europa, das unvergleichbare Projekt, das es so noch nie gab, darf nicht so einfach ins Klo rauschen“.
Wie im Gespräch, so wechselt er auch im Stück eindrucksvoll den Sprachduktus, passt das Sprechniveau seinen Figuren und der Handlung an und gestaltet so ein Sprachkunstwerk, das über Agitprop hinausreicht.
Zu Beginn glaubt man allerdings, in einen Asterix-Comic geraten zu sein. Witzig, holzschnittartig - oder besser pappschnittartig - vergröbert, werden von den fünf Schauspieler*innen (im Stück-Text sind es dreißig Rollen!) die heutigen Europa-Probleme angerissen. Alle kommen dabei zu Wort: Europa-Verteidiger wie Skeptiker, Putinversteher wie Friedenssichere; und politisch korrekt werden unsere Verantwortung angemahnt und Schuld angeprangert. Dabei werden viele offene Türen eingerannt.
Bildhaft, urkomisch, grotesk humorig kommt der zweite Strang auf die Bühne: der Schnelldurchgang durch die Geschichte. Inhaltlich kriegs- und gewaltlastig, doch bühnenwirksam und phantasievoll erscheinen die Römer mit Papphelmen und Pappschwertern, die gehörnten Wikinger segeln im dekorativen Pappboot, auf dem noch in großen Lettern die frühere Verwendung zu lesen ist - Recycling ist angesagt! - auf die hintere Bühne. Einer von ihnen beißt dabei herzhaft in einen überdimensionalen Pappfisch: das ist komisch oder doch schon albern. Das Publikum geht gern mit, lacht herzhaft. Dann werden die Kreuzzüge, die Kolonialherrschaft, Kaiser Wilhelm und schließlich Hitler thematisiert und persifliert. Die Blutspur durch die europäische Geschichte gerät in dieser Darstellung zur Farce, da stimmt was nicht.
Als dritten Spiel- und Erinnerungsstrang montiert das Stück den Mythos um die phönizische Prinzessin Europa, die auf den falschen Stier setzt (Zeus mit gewaltigem Papp-Stier-Kopf) mit der Historie. Höchst heutig nehmen sich bei dieser Affäre Sprache und Vergewaltigungsszene (hinter dem zweiten Vorhang) aus. Grotesk überspielt, doch intelligent mit den anderen Strängen verschränkt, landet die Zeitreise dann in der Zukunft. Wie gesagt, „Konstantin meint“, beginnt die Belehrung des Publikums. Wir sind im Jahr 2020 bei Frontex angekommen und im Mittelmeer werden Schiffe versenkt. Da stimmen Bild und Inhalt endgültig nicht mehr überein.
Zweifellos: Der Autor hat ein Anliegen und das will er transportieren. Er will „europa verteidigen“. Er liefert ein Lehrstück mit Gebrauchswert, ganz im Sinne Brechts.
Die Regie nimmt das Anliegen auf, lässt die Figuren grob vereinfacht, mimisch und gestisch typisiert agieren. Gefühle und Handlungen werden im Smiley-Stil demonstriert und durch die Wellpappen-Requisiten illustriert und karikiert. Es wirkt wie ein Gebrauchsstück für Schulen.
Das alles ist in sich stimmig, transportiert jedoch nicht die Düsternis der abgründigen Geschichten.
Dem Mülheimer Publikum gefiel es: Konstantin Küspert erhielt den Publikumspreis der Mülheimer Theatertage dafür.