Warum sind die sozialen Netzwerke so sauber?
Die Sicht ist mäßig, wenn Sie zu spät kommen. In der kleinsten Spielstätte des Dortmunder Megastore sitzen Sie mitten im Bühnenbild – oder eben am Rand, wo sie zwischen den tropischen Pflanzen hindurchschauen müssen, um die Schauspieler zu entdecken. Ob es tropische Pflanzen sind, wie sie wachsen dort auf den Philippinen, wo das Stück dieses Abends spielt? Wer weiß das schon: „Manila ist so weit weg“, heißt es einmal. Mit Rodrigo Duterte haben sie dort einen mutmaßlichen Verbrecher als Staatspräsidenten. Wahnsinnig katholisch sind sie dort – die meisten jedenfalls. Aber ansonsten wissen wir offenbar nicht viel über das Land. Jedenfalls haben wir nicht geahnt, wovon das Schauspiel Dortmund uns heute Abend erzählt. Caroline Hanke, die inmitten des grünen Bühnenbildes die „Autorin“ spielt, hat sich auf die Suche nach den „digitalen Gärtnern“ begeben. Der tropische Garten ist nämlich nur eine Metapher.
Die „digitalen Gärtner“ arbeiten für Facebook. Wir Ahnungslosen im dekadenten Europa greifen Facebook und andere soziale Netzwerke immer mal wieder an, weil sie ungefiltert Hassvideos und herabsetzende Botschaften veröffentlichen. Wir fordern die schnellstmögliche Löschung und die Einführung irgendwelcher Barrieren ein, damit diese Botschaften kein Unheil anrichten. Die Gruppe Laokoon aus Berlin stellt am Schauspiel Dortmund eine andere Frage: Warum ist Facebook eigentlich so sauber? - Etwa zwei Milliarden „Autoren“ laden regelmäßig Bilder, Videos, Facts und Fiction, Fundstücke und Erfundenes hoch. 300 Millionen Fotos pro Tag werden bei Facebook hochgeladen, 100 Millionen Stunden Videomaterial und Livestreams täglich angesehen. Und das soll alles sauber sein? Die Aufführung nennt ein Beispiel: Ein Video, das den Missbrauch eines kleinen Mädchens durch einen alten Mann zeigt, wurde innerhalb von 16 Stunden zigtausend Mal angeklickt und viertausend Mal geteilt. Dann wurde es gelöscht. Haben wir uns jemals überlegt, wer diese Löschungen veranlasst und durchführt?
Moritz Riesewieck hat ebendies recherchiert und ist über die Dissertation der amerikanischen Medienwissenschaftlerin Sarah T. Roberts auf das Schicksal der „digitalen Gärtner“ gestoßen: auf die sogenannten „Content Moderators“. Viele von ihnen arbeiten unter der Auflage strikter Geheimhaltung für von Facebook und anderen sozialen Netzwerken beauftragte Firmen und sichten bis zu zehn Stunden täglich Fotos und Videos, um zu entscheiden, welche Dateien gelöscht werden. Sie sehen Kinderpornos und Sex mit Tieren, perverse Gewaltvideos, IS-Propaganda und Enthauptungsvideos und anderes mehr. In klinisch sauberer Umgebung erledigen sie digitale Drecksarbeit. Viele dieser Firmen sitzen auf den Philippinen; allein viermal ist Moritz Riesewieck nach Asien gefahren, um vor Ort zu recherchieren. Er traf zutiefst traumatisierte Menschen an.
Soweit die Recherche, über die Moritz Riesewieck in seinem in Kürze erscheinenden Buch „Digitale Drecksarbeit. Wie uns Facebook und Co. von dem Bösen erlösen“ berichtet und wie sie den ersten, kleineren Teil der Dortmunder Aufführung ausmacht. Für das Schauspiel hat der Regisseur ein fiktives Stück über diese Clickworker geschrieben. Es wird zu einer Expedition ins Horror-Genre. Wir wissen, dass alles, was in diesem Stück angesprochen wird, real ist. Drei Schauspieler verkörpern drei auf unterschiedliche Weise traumatisierte Clickworker. Da ist Merle Wasmuth als Maggy: Die tiefgläubige Christin muss sich permanent mit Pornovideos auseinandersetzen. Der Schmutz, den sie täglich zu sehen bekommt, hat bei ihr zu einem neurotischen Waschzwang geführt. Viren und Bakterien, die sich auf der Haut befinden, werden bei jedem Handschlag übertragen, erzählt sie – und wäscht und wäscht und wäscht sich. „Cleanliness is next to Godliness“, sagt sie, but all the perfumes of Arabia will not heal her injured soul. – Da ist Björn Gabriel als syrischer Auswanderer Nasim. Er wollte kein Kriegsflüchtling werden, weil er die Bilder von überfüllten Flüchtlingsbooten und von dem Hass, auf den die Flüchtlinge in Europa treffen, gesehen hat. So heuerte er stattdessen als ganz legaler Auswanderer bei der Content Moderation Company in Manila an und muss sich nun stundenlang Gewaltvideos des IS aus seiner Heimat ansehen. Sie verfolgen ihn in der Nacht. Irgendwann stellt er fest, dass die von ihm verabscheuten Bilder ihn sexuell erregen. „Normaler“ Sex funktioniert plötzlich nicht mehr. Nasim verzweifelt.
Und da ist Raafat Daboul als Dodong. Er ist traumatisiert von dem nach Expertenmeinung schlimmsten Video aller Zeiten, einem Film, in dem ein 18monatiges Mädchen auf brutalste Weise gefoltert wird. Die Aufführung nennt den Namen des Videos; der Rezensent, der gerade eine Polemik gegen die Zensur bei Milo Raus Five Easy Pieces in Köln verfasst hat, wird dies unterlassen: „Kein Mensch kennt dieses Video, aber wenn man bei Google seinen Namen eingibt, dann geht’s los“, sagt Caroline Hanke, die als Autorin die westliche Perspektive in diese Geschichte einbringt. Ich habe gegoogelt – und bin auf aufgeregte Warnungen gestoßen von Menschen, die normalerweise offenbar großes Vergnügen an Gewaltvideos finden. Die Beschreibungen, die ich las, brachten Augen und Verstand zum Flattern, so dass ich schnell die Internetverbindung abbrach, denn ich fürchtete um den Schlaf der nächsten Nächte. Dodong jedenfalls, der den Film aus professioneller Pflichterfüllung sah und ihn nicht schnell genug entfernte, um sich selbst zu schützen, sucht nun zwanghaft in Manila nach dem Garten, in dem dieser Film gedreht wurde. Denn tatsächlich sitzt der Urheber des kriminellen Machwerks in einem philippinischen Gefängnis.
Dieser Garten bildet - wie eingangs beschrieben - auch das Bühnenbild der beklemmenden Inszenierung, die zeitweise mächtig an die Nieren geht. Der Garten besteht aus echten tropischen und heimischen Pflanzen, die allerdings zu verkümmern drohen und die den über den gesamten Raum verteilten Zuschauern die Sicht nehmen. Kaum jemand weiß von diesen Clickarbeitern - sie sind so verborgen hinter der glatten Fassade von Facebook und ihren Auftragsfirmen wie diese Aufführung hinter der wuchernden Flora. Hinter diesen Pflanzen verstecken sich Grausamkeiten, von denen wir nichts ahnten. Aber trotz der manchmal etwas schwierigen Sichtachsen müssen wir nicht befürchten, etwas zu verpassen. Die Aktionen der Schauspieler werden live übertragen auf mehrere große Bildschirme, die allerdings – cleanliness is next to godliness – ab und an auch schöne Unterwasserwelten oder touristische Bilder aus Manila zeigen. Für Sekundenbruchteile und scheinbar etwas verschwommen tauchen auch einmal Bilder auf, die den Gewaltvideos entnommen sein könnten.
Allein die Schilderung dessen, was die Clickworker täglich ansehen müssen, ist oftmals unerträglich und wirft die Frage nach einer restriktiven Altersfreigabe der Aufführung auf. Nachgestellt wird die Szene eines Gewaltvideos, in dem ein gefesselter Christus gekreuzigt wird. Wir hören, wie die Nägel ins Fleisch des Gekreuzigten geschlagen werden – und wir sehen glasklar, dass das Geräusch von Paradiesäpfeln stammt, die zerhackt werden. Aber wir müssen den Blick abwenden – so sehr wird unser Gehirn animiert. Diese Szene nimmt die Gruppe Laokoon übrigens zum Anlass, auch eine andere Frage in dem unlösbaren moralischen Konflikt zwischen verträglichen, gesetzeskonformen Netz-Inhalten und dem zutiefst unmoralischen, weil lebenslange Traumatisierungen hervorrufenden Einsatz menschlicher Kontrolleure aufzuwerfen: Wo verläuft eigentlich die Grenze zwischen Zensur und notwendiger Löschung? Darf man das Foto eines Gekreuzigten löschen oder fällt es unter notwendige Berichterstattung? Wer entscheidet, was an die Öffentlichkeit gehört und was getilgt werden muss?
Die Thematik, die Sarah Roberts mit ihrer Dissertation und Laokoon mit ihrer Recherche aufgeworfen haben, führt in einen scheinbar nicht zu durchbrechenden Teufelskreis. Nachdenklich, wenn nicht gar schockiert verlassen wir das Theater. Wir brauchen diese Menschen, die „uns von dem Bösen erlösen“, wie Riesewieck es maliziös formuliert. Aber das Outsourcing des Bösen an zu Niedriglöhnen arbeitende Clickworker in fernen Ländern ist ebenso unmoralisch. „Manila ist so weit weg“? - Das darf die Lösung nicht sein. Aber wie kann sie aussehen? „Wir wollen nicht mehr von euren Krankheiten leben, von eurer verkrüppelten Lust“, sagt eine der Figuren aus Riesewiecks Drama. Und Caroline Hanke stellt fest: „Irgendwo auf der Welt ist immer Nacht.“