Übrigens …

Die unheimliche Bibliothek/Recomposing_Art VII im Asphalt Festival Düsseldorf

Im Sog der Worte und Töne

Die surreale Erzählung Die unheimliche Bibliothek von Haruki Murakami aus dem Jahr 1982 wurde erst vor vier Jahren aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzt. Sie inspirierte den Komponisten und Asphalt-Festival-Gestalter Bojan Vuletic zu der Komposition The Strange Library, in der er die Eindrücke dieses kalten Märchens mit den Utopien einer Welt-Universalbibliothek aus der Erzählung La Biblioteca de Babel von Jorge Luis Borges zu einem musikalischen Werk zusammenführte, in das zudem der argentinische Text stückweise eingesprochen wird.

Der Uraufführung des Werkes wurde jetzt im Rahmen des Festivals - gleichsam als zweiteiliges Gesamt-Kunstwerk - die japanische Gruselgeschichte als szenische Mitmach-Lesung (faszinierend: Hanna Werth und Philipp Alfons Heitmann) vorangestellt.

Die Zuschauer hatten sich vor einem verfallenen Hintereingang der unübersichtlichen Backfabrik versammelt und wurden von dem „kleinen Jungen“ auf der Stelle in Bibliotheks-Besucher uminterpretiert. Die Anweisung lautete, den Raum 107 aufzusuchen, um dort Literatur über die Methoden der Steuereinziehung im Osmanischen Reich – so das Begehr des wissbegierigen Jungen – zu erhalten. Ein unheimliches Männlein mit gnomhafter Stimme empfing uns und schickte den Jungen – also uns alle – durch die labyrinthischen Gänge der „Bibliothek". Und tatsächlich ging es treppauf, treppab, in kleine fensterlose Kammern, durch Speicher- und Kellerräume; orientierungslos hörten wir den surrealen, verstörenden Text und fühlten uns gefangen in der kafkaesken Geschichte. Am Ziel wurde der Junge mit einer Eisenkette gefesselt, mit Literatur zum gewünschten Thema versorgt, sein Gehirn gemästet, um dann am Ende von dem dämonischen Alten gefressen zu werden. Blitzschnell schlüpften die beiden Schauspieler in die unterschiedlichsten Rollen: ein bildhübsches Mädchen und ein Schafsmensch tauchten als Bedienung auf und verbündeten sich mit dem Gefangenen.

Doch dann, ganz unbegründet, wandelt sich die „Angst in eine Angst, die eigentlich keine Angst mehr ist“; noch einmal geistern wir auf dem Weg zur Befreiung durch obskure Gänge, und als alles um sonst scheint, löst Haruki Murakami die Spannung: wir sind mit Hilfe eines imaginären Raben befreit, doch der Böse überlebt.

Da unterscheidet sich der Ausgang seiner Geschichte sowohl vom klassischen Märchenende als auch von der kafkaesken Unerbittlichkeit oder - ganz einfach - vom Aufwachen aus einem Albtraum. Der Junge ist zurück bei seiner Mutter, doch die Zeit ging weiter und auch im Alltag hat sich einiges verändert. Sein Vogel, der ihn befreite, ist tot. Märchenwelt und Realität greifen ineinander: Unser Junge ist gerettet, doch vielen nach ihm droht das gleiche Schicksal. Eine Lebensgeschichte und eine mitreißende Inszenierung.

 Eine halbe Stunde später konnte man die verstörende Geschichte Murakamis in musikalischer Interpretation von Bojan Vuletic erleben, ineinandergefügt mit der Unendlichkeitssehnsucht des Jorge Luis Borges. Eine mutige Kombination, meisterlich vorgetragen von dem New Yorker Streichquartett Mivos Quartet, einem der “kühnsten und wildesten Ensemble für neue Musik in Amerika“ (The Chicago Reader) sowie Vibraphon, Flöte, Saxophon und Trompete. Eine Gruppe Musiker, mit denen Vuletic immer wieder zusammenarbeitet, und die das Stück auch in New York aufführen werden.

Nach einer Stunde begeisterter Applaus.