Übrigens …

Pussy Riots im Schauspiel Essen

Tatatataa - hier ist der Feminismus

Die feministische russische Punk-Gruppe Pussy Riots hat sich erst im Jahre 2011 gegründet. Dennoch kommt die Stückentwicklung von Magz Barrawasser und Florian Heller am Schauspiel Essen ein paar Jahre zu spät. Denn was sie uns erzählt, wissen wir längst. Wir wissen, was die Geschichte, die Vorgehensweise und die Philosophie der auch im Westen Aufsehen erregenden jungen Damen ausmacht. Die ausgemachten Feministinnen wirkten durchaus sexy in ihren quietschbunten Sommerkleidchen und mit ihren bonbonfarbenen Sturmhauben, und so muss man schmunzeln, wenn sie im Brustton der Überzeugung behaupten, sie trügen ihre Masken vor allem, um nicht ihre weiblichen Gesichter als Marketing-Instrument zu missbrauchen. Nadeschda Tolokonnikowas Selbstbeschreibung der Gruppe als Teil einer „globalen antikapitalistischen Bewegung, die aus Anarchisten, Trotzkisten, Feministinnen und Autonomen besteht“, mag in diesen Tagen der Hamburger G20-Krawalle ein wenig Stirnrunzeln auslösen, aber erfreulicherweise ist in der realen Welt der Anteil der Autonomen und Anarchisten unter den Kapitalismuskritikern doch eher überschaubar.

Vorrangige Ziele der Attacken von Pussy Riot sind die ihrer Meinung nach imperialistische frauenfeindliche Politik der russischen Regierung und die Verflechtung von Staat und Russisch-Orthodoxer Kirche. Mütterchen Russland und Väterchen Putin fühlten sich durch die Provokationen der Gruppe herausgefordert, aber weltweite Aufmerksamkeit erfuhr die Gruppe durch ihr berühmtestes Attentat gegen die russischen guten Sitten: Am 21. Februar 2012 drangen drei von ihnen verbotenerweise in den Altarraum der Moskauer Erlöser-Kathedrale ein und performten von der Kanzel ein sogenanntes „Punk-Gebet“ gegen Staat und Kirche, in dem sie gegen die Wahlkampfunterstützung Putins durch den russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. und gegen „schwarze Kutten, goldene Epauletten“ und „Gottesscheiße“ polemisierten. In jedem Land der Welt hätte es nach einer solchen Aktion eine Blasphemie-Debatte und wohl auch eine Geld- oder Bewährungsstrafe gegeben. Im Reich des lupenreinen Autokraten Wladimir Putin landeten Nadeschda Tolokonnikowa und Marija Aljochina im Straflager; Jekaterina Samuzewitsch wurde dank einer eher pragmatischen als eleganten Volte ihrer Anwältin nach der Berufungsverhandlung freigesprochen. Nach allem, was man hört, geht es in Straflagern in Mordwinien oder Sibirien heute nur unwesentlich besser zu als zu Zeiten von Solschenizyns Archipel Gulag, und mit Hungerstreiks lässt sich die Angelegenheit in der internationalen Presse noch weiter eskalieren.

Denn natürlich beging der russische Staat den typischen Fehler, den repressive Diktaturen überall auf der Welt machen. Er ging mit aller Härte und machtbewusstem Zynismus gegen die Aktivistinnen vor. Die aber waren den Betonköpfen in der russischen Administration und im Justizapparat im Hinblick auf die internationale Marketing-Strategie haushoch überlegen: Die Ladies wurden Kult. Sogar das Dokumentartheater hat sich ihrer schon angenommen: Milo Rau nahm im Jahre 2013 mit seinem International Institute of Political Murder den Pussy-Riot-Fall sogar zum Anlass, im Moskauer Sacharow-Zentrum der staatlichen und kirchlichen Kampagne gegen unbequeme russische Künstler den Prozess zu machen - ein deutlich mutigeres Unterfangen als die Nacherzählung der Geschichte am Schauspiel Essen. 

Wer in den letzten Jahren aufmerksam die Feuilleton- und Politikseiten der freien Presse verfolgt hat, weiß also alles, was Magz Barrawasser und Florian Heller in ihrem eigens neu entwickelten Stück erzählen. Im Wesentlichen beschränkt sich der Text darauf, collageartig aufgebrochen die Geschichte der Punk Band, ihrer Wut und ihres Auftritts in der Erlöserkirche zu resümieren und eine Rechtfertigung für den Feminismus auch in unserer Gesellschaft daraus abzuleiten. Nicht immer kann das bravouröse Damen-Ensemble die Schwäche des Stücks ausgleichen. Aus dem dreiköpfigen Ensemble ragt Katharina Leonore Goebel heraus. Sie kann nicht nur die wilde, manches Mal wütende Punkerin und die selbstbewusst unkonventionelle Feministin glaubhaft verkörpern, sondern sie überzeugt auch in zahlreichen anderen, ausgesprochen unterschiedlich grundierten Rollen: als Polizistin oder Lageraufseherin, als ängstliche Mutter, die um die Beziehung zu ihrem Kind fürchtet, sowie in mehreren sehr unterschiedlichen Zeugenrollen im Schau-Prozess. Goebel beweist schauspielerische Variabilität; sie kann böse, ängstlich und sensibel sein. Für Punkerinnen wirken Jaëla Carlina Probst und Silvia Weiskopf eine Spur zu nett, obwohl die drei, wenn sie zur E-Gitarre greifen oder auch mal a cappella singen, manch hinreißenden (aber auch manch banalen) Wut-Song dröhnen.

Am Anfang glaubt man noch, diese Songs könnten der Inszenierung eine treibende Kraft verleihen. Ein kleiner Vortrag an das „liebe Patriarchat“ wirkt eher charmant als aggressiv; ein paar feministische Spielchen und die eingestreuten „Profi-Tipps“ von Probst führen zu gelungenen ironischen Brechungen. Doch trotz der collageartigen Struktur und der regelmäßig eingestreuten musikalischen Nummern wirkt der Abend unfertig. Wenn Eva im Paradies als mögliche erste Feministin präsentiert wird (in einem albernen Kasperle-Spiel mit einem Braunbären), wenn Gottes aus heutiger Sicht zynische Definition des Platzes, den die Frau in seiner Schöpfung einzunehmen hat, zitiert wird („Ich will dir Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst, und dein Verlangen soll nach einem Mann sein“), könnte das witzig sein, doch es bleibt belanglos. Zitate aus Literatur, Religion und Geschichte werden angeführt als Indizienbeweis für das Bestehen einer patriarchalischen Gesellschaft – in Bezug gesetzt zur aktuellen Pussy Riot-Kritik an Russland werden sie nur unzureichend.

Dabei ist die Absicht noch eine viel ambitioniertere: Der Dramaturg und Mitautor Florian Heller schreibt im Programmheft: „Nicht das ferne Russland ist das Problem, sondern Phallozentrismus, Homophobie und Gender-Normen, die auch unseren Alltag nach wie vor fest im Griff haben.“ Die Aufführung soll das Anliegen des Feminismus auch in unserer hiesigen Gesellschaft vertreten. Doch sie fährt Geschütze auf, deren Donner im Kinderzimmer verhallt, und schlägt mit Fliegenklatschen zu, die der furchtsamsten Mücke keine Angst einjagen. Die Beispiele für den latenten Sexismus unserer Gesellschaft, die die furiosen Essener Darstellerinnen anführen, sind von rührender Harmlosigkeit und mangelnder Aktualität. Da wird der viereinhalb Jahre alte sexistische Spruch des alternden Rainer Brüderle gegenüber der „Stern“-Journalistin Laura Himmelreich aufgewärmt, den weniger aufgeregte Zeitgenossen schon damals als Unbeholfenheit eines alten Mannes einordneten. Hand aufs Herz: Wir alle kennen alte Männer, die angesichts von zwangsläufiger sexueller Inaktivität und nachlassender Impulskontrolle ab und zu solch peinliche Sprüche vom Stapel lassen. Anstelle von Sexismus-Vorwürfen wären da wohl eher Mitleid und Gelassenheit angebracht. – Auch den Spitznamen unserer Bundeskanzlerin prangert die Inszenierung als verdeckten oder offenen Sexismus an: Dabei klingt „Mutti“ doch nett und fürsorglich, und die manchmal ungelenke Rhetorik der Dame legt solche Assoziationen nahe. Die Männer haben in der Politik mehr einzustecken: „Bambi“ für Philipp Rösler war fraglos aggressiver, ehrverletzender und weniger wahlkampftauglich; „Birne“ oder „Whiskey-Willy“ waren bei Merkels Vorgängern selten freundlich gemeint. Wenn der Inszenierung keine schlagenderen Beispiele für latenten Feminismus einfallen, haben wir offenbar kein Problem. Magz Barrawasser läuft mit viel Schwung gegen sperrangelweit offene Türen – und stolpert mangels Widerstand.

Gegen Ende der Inszenierung tritt Jaëla Carlina Probst im schwarzweißen Zauberer-Ganzkörperanzug auf und juchzt: „Tatatataa – hier bin ich: der Feminismus!“ Der oder die Gott sei Dank hat die Inszenierung damit ihren intellektuellen Tiefpunkt erreicht. Die Geschichte der Pussy Riots – booah, was hätte das für eine rasante, wilde, empörende Aufführung werden können. Denn empörend ist es ja, was diesen Damen geschehen ist. Die Art und Weise, wie sie sich gegen das herrschende System gestemmt haben, ist von vibrierender revolutionärer Kraft. Die jegliche Tabus verletzenden Provokationen der Damen könnten auch im deutlich aufgeklärteren und permissiveren Westen heftige politische und moralische Diskussionen auslösen. Man muss die Aktionen der Punkerinnen nicht mögen, aber wow: Jekaterina Samuzewitsch, Marija Aljochina und allen voran die Wortführerin und Marketing-Leiterin der Gruppe Nadeschda Tolokonnikowa haben Kraft, Charisma und einen unbeugsamen Willen. Das ist doch toll. „Girls to the front“, singen Weiskopf, Probst und Goebel zum Abschluss des Abends. Ja, nichts dagegen. Gern auch mit Weiskopf, Probst und Goebel. Aber nicht mit diesem Stück!

Großer Jubel des vorwiegend jungen Publikums.